Das Fest des Ziegenbocks
ging
mit ihr verschiedene Möglichkeiten durch, und sie entschieden sich für vier prestigereiche Universitäten: Yale, Notre Dame, Chicago und Stanford. Einen oder zwei Tage nachdem sie die Anträge ausgefüllt hatten, rief Dr. Sallison sie an: »Warum nicht auch Harvard? Man verliert nichts dabei.« Urania erinnert sich an die Reisen zu den Vorstellungsgesprächen, an die von den Dominikanerinnen organisierten Übernachtungen in den religiösen Herbergen. Und an die Freude von Dr. Sallison, von Ordensschwestern und Kommilitonen, als die Antworten der Universitäten eintrafen, auch von Harvard, und sie angenommen wurde. Man richtete ihr ein Fest aus, auf dem sie tanzen mußte. Ihre vier Jahre in Adrian hatten ihr erlaubt zu leben, etwas, von dem sie geglaubt hatte, sie würde es nie wieder können. Deshalb empfand sie tiefe Dankbarkeit gegenüber den Ordensschwestern. Dennoch war Adrian in ihrer Erinnerung eine schlafwandlerische, Ungewisse Epoche, in der das einzig Konkrete die endlosen Stunden in der Bibliothek waren, in denen sie arbeitete, um nicht denken zu müssen.
Cambridge, Massachusetts war etwas anderes. Dort begann sie, ein neues Leben zu leben, zu entdecken, daß das Leben sich lohnte, daß Studieren nicht nur eine Therapie, sondern auch ein Genuß war, ein erregendes Vergnügen. Wie hatte sie den Unterricht, die Vorträge, die Seminare genossen! Sie war wie betäubt vom Reichtum der Möglichkeiten (außer Jura hörte sie als Gasthörerin eine Vorlesung über lateinamerikanische Geschichte und nahm an einem Seminar über die Karibik und einem Zyklus über dominikanische Sozialgeschichte teil); der Tag hatte nicht genug Stunden und der Monat nicht genug Wochen, um ihr zu erlauben, alles zu tun, was sie reizte. Jahre voller Arbeit, nicht nur geistiger Art. Im zweiten Harvard-Jahr teilte ihr Vater ihr in einem dieser Briefe, die sie nie beantwortete, mit, er sehe sich angesichts der schlechten Situation gezwungen, die fünfhundert Dollar, die er ihr pro Monat schickte, auf zweihundert zu kürzen. Dank des Studentendarlehens, das sie erhielt, war ihr Studium gesichert. Aber um ihre
frugalen Bedürfnisse zu befriedigen, arbeitete sie in ihrer Freizeit als Verkäuferin in einem Supermarkt, als Kellnerin in einer Pizzeria in Boston, als Austrägerin einer Apotheke und – am wenigsten beschwerlich – als Gesellschaftsdame und Vorleserin eines gelähmten Millionärs polnischer Herkunft, Mr. Melvin Makovsky, dem sie von fünf bis acht Uhr abends in seinem in der Massachusetts Avenue gelegenen viktorianischen Haus mit granatroten Mauern umfangreiche Romane des 19. Jahrhunderts vorlas (Krieg und Frieden, Moby Dick, Bleak House, Pamela) und der ihr nach drei Monaten Vorlesen völlig unerwartet einen Heiratsantrag machte.
»Gelähmt?« Lucinda reißt die großen Augen auf. »Und siebzigJahre alt«, ergänzt Urania. »Steinreich. Er machte mir einen Heiratsantrag, ja. Ich sollte ihm Gesellschaft leisten und vorlesen, weiter nichts.« »Wie dumm«, sagt Lucinda empört. »Du hättest ihn beerbt, du wärst Millionärin.«
»Du hast recht, das wäre ein glänzendes Geschäft
gewesen.«
»Aber du warst jung, idealistisch und hast geglaubt, man müsse aus Liebe heiraten.« Ihre Cousine liefert ihr gleich die Erklärungen mit. »Als wenn das von Dauer wäre. Ich habe mir auch eine Gelegenheit entgehen lassen, mit einem stinkreichen Arzt. Er verzehrte sich nach mir. Aber er war ein bißchen dunkel, man sagte ihm eine haitianische Mutter nach. Es waren keine Vorurteile, aber wenn mein Kind nun einen Sprung rückwärts gemacht hätte und kohlschwarz geworden wäre?«
Sie studierte so gern, sie war so froh in Harvard, daß sie daran dachte, sich der Lehre zu widmen, zu promovieren. Sie hatte jedoch keine Mittel dafür. Ihr Vater befand sich in einer zunehmend schwierigen Situation, im dritten Jahr stellte er auch die gekürzte Monatszahlung ein, so daß sie ihren Abschluß machen und so bald wie möglich anfangen mußte, Geld zu verdienen, um das Studiendarlehen zurückzuzahlen und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Prestige der juristischen Fakultät von Harvard war ungeheuer groß; als sie Bewerbungen zu verschicken begann, lud man man sie zu zahlreichen Gesprächen ein. Sie entschied sich für die Weltbank. Der Abschied tat ihr weh; in diesen Jahren in Cambridge legte sie sich das »perverse Hobby« zu: das Lesen und Sammeln von Bü chern über die Ära Trujillo. Auch im schäbigen Wohnzimmer gibt es ein Photo
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