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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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als ob etwas zerrissen würde. Bettlaken? Vor ihrem inneren Auge sah sie ein zusammengeknotetes Seil in den Garten hinunterhängen. Als das Geräusch verstummte, stand sie auf und klopfte leise.
    »Lucy?«
    »Geht weg.«
    »Lucy, ich bin’s. Gemma.«
    Sie hörte das Scharren von Stuhlbeinen auf dem Boden. Die Tür wurde geöffnet.
    Ein kopfloser Torso lag auf der Truhe. Daneben hing ein Paar Beine. Ein anderer zerfetzter Körper lehnte an der Truhe. Lady Whitelegs war in zwei Teile zerrissen. Die untere Hälfte von Lady Pimpernel hing formlos herunter. Von Lady Silken-Hair waren nur noch Fetzen zu erkennen und von Lady Pipkin nicht einmal das. Aber eine noch schlimmere Bescherung lag über den Boden verstreut. Durch einen Schleier aus Sägemehl sah Gemma auf zerrissene und zerknitterte Seiten, alle mit einer wohlbekannten Handschrift bedeckt.
    »O Lucy!«
    Gemma stellte die Suppenschale ab und hob ein Stück Papier auf.
    Ich lass dich kosten honigsüßen Seim,
So kühl, als hüllte er den heißen Evaapfel ein ...
    Sie kniete sich hin und begann die Seiten einzusammeln. In der offenen Kleidertruhe sah sie die Falten des silbrigblauen Gewands. Zumindest das Kleid war unversehrt.

    »Mistress Gardiner hat mich beauftragt, dir Suppe zu bringen«, sagte Gemma, als sie alles Papier eingesammelt hatte.
    »Gieß sie in den Nachttopf.«
    »Aber Lucy ...«
    »Sag ihnen, dass ich wieder faste.«
     
    »Wir tauschen unsere Freiheit nur aus«, hatte die Königin ihr bei dem Festmahl ins Ohr geflüstert. »Wir tauschen unser Verlangen nur aus.«
    Als der König die bevorstehende Vermählung ankündigte, hatte die Hand der Königin unter dem Tisch Lucys Hand ergriffen, und Lucy hatte sich außerstande gesehen zu antworten. Der Küchenjunge hatte sie angestarrt. Aus der Küche hochgeholt, um vor dem König Kapriolen zu vollführen. Oder vielleicht, um Zeuge ihrer Demütigung zu werden. In ihrem Zimmer hatte sie sich später ausgemalt, wie John Saturnall den anderen in seinem unterirdischen Reich berichtet hatte, was ihr widerfahren war. Dort unten machte man sich über sie lustig, das wusste sie. Pounceys und Poles diplomatische Mission hatte ihren Zorn nur noch gesteigert.
    Eine schreckliche Lust war über sie gekommen, als sie über die Puppen herfiel, und eine noch bösere Leidenschaft, als sie die Seiten aus dem Buch riss. Dann hatte Lucretia den Deckel der Kleidertruhe geöffnet und das Kleid herausgenommen. Sie hatte das silbrigblaue Seidenkleid ergriffen und sich angeschickt, den feinen Stoff zu zerreißen ...
    »Der Eid bindet uns die Hände«, hatte Mister Pouncey in dem näselnden Ton erklärt, in dem er Vertrauliches zu sagen pflegte. »Aber Piers kann in Eurem Namen das Erbe antreten, da er Euer Vetter zweiten Grades ist ...«
    Mit der Geschichte des Eids war sie aufgewachsen. Das Gelübde ihres Vorfahren. Sie hatte nie gedacht, dass es solchen Zwang auf sie ausüben würde.
    »Ihr müsst Lord Piers lediglich heiraten«, hatte der Haushofmeister ihr versichert. »Ihr wärt nicht gezwungen ... intim mit ihm zu verkehren.«

    Außer er benötigte einen Erben, dachte sie finster. Dann fielen ihr die Worte der Königin wieder ein. Wir tauschen unser Verlangen nur aus ... War Piers so abscheulich, zwang sie sich zu erwägen, mit seinem strähnigen Haar und seinem wabbeligen Kinn? Konnte er abscheulicher sein als Lady Carolines mutmaßlicher Geliebter, Sir Philemon mit dem eisigen Blick und dem aufgeschlitzten und zusammengenähten Gesicht? Sie stellte sich Piers’ Gliedmaßen mit den ihren verschlungen vor, seine klamme Haut an ihrer Haut, seinen schalen Atem, der nach Schnaps roch, in ihrer Nase ...
    Die Vorstellung weckte Übelkeit. Sie sah zu, wie Gemma die Seiten aufsammelte und die Suppe wegbrachte. Als sie allein war, setzte Lucretia sich vor ihren Toilettentisch und sah aus dem Fenster zu dem Haus mit dem Festsaal hinüber. Über seinem steilen Dach dehnte sich eine weiße Wolke über den Himmel. An solche Stunden erinnerte sie sich von ihrem letzten Fasten. Ganze Tage schwindelerfüllter Langeweile.
    In der Nacht fühlte ihr Magen sich an, als rollte ein spitzkantiger Stein in ihm. Sie schlief schlecht und erwachte, als die Glocke der Kapelle zum Frühstück läutete. Im Verlauf des Tages wurde der Schmerz in ihrer Magengrube immer stärker. Nach dem Nachtmahl war vor der Tür Gemmas Stimme zu hören.
    »Lucy!«, flüsterte sie laut. »Ich bin’s wieder.«
    »Was ist?«
    Röcke raschelten. Im nächsten

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