Das Festmahl des John Saturnall
Augenblick wurde eine kleine graubraune Scheibe unter der Tür hindurchgeschoben.
Lucretia wusste, was das war. Es erschien einmal im Jahr auf dem Tisch im kleinen Salon. Am Todestag ihrer Mutter. Schwarzbrot.
Das Gesinde aß dieses Brot das ganze Jahr hindurch. Sie hatte es selbstverständlich immer verschmäht. Nun fühlte sich die dunkle Brotscheibe einladend fest an. Der Geruch von Hefe und Sauerteig kitzelte ihr in der Nase. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen und floss in den Magen zu dem mahlenden Stein.
»Ich konnte nichts Besseres mitnehmen«, sagte Gemma durch die Tür. »Pole hat mich beobachtet. Sie haben über dich geredet. Gardiner
sagt, wenn du nichts isst, hast du keine Monatsblutungen mehr. Du trocknest innerlich aus und kannst keine Kinder bekommen ... Lucy?«
»Mmh.«
Lucretia zerbiss die dicken Getreidekörner. Die grobe kleistrige Masse klebte ihr auf der Zunge. Sie hielt sich ein Schnupftuch vor, um die Krümel aufzufangen, und kaute voller Inbrunst. Lucretia hielt es für denkbar, dass sie noch nie etwas so Köstliches wie dieses Schwarzbrot zu essen bekommen hatte.
Gemma schmuggelte am Tag darauf ein weiteres Stück Brot ein, doch als Lucretia in den schweren Kanten biss, zischte Gemma eine Warnung.
»Lucy! Sie kommen!«
Schritte kamen die Treppe hinauf. Dann ertönten sie im Gang. Lucretia kaute schnell, doch schon hörte sie den Schlüssel in der Tür. Sie wickelte den Rest des Brots in das Schnupftuch, ließ es fallen und schob es mit der Fußspitze unter ihr Bett. Sie wischte sich den Mund, als die Tür geöffnet wurde und Mister Pouncey, Mistress Gardiner, Mister Fanshawe und Mistress Pole zu sehen waren.
Mit ihnen kam ein neuer Geruch herein. Eine üppige Mischung aus geschmortem Fleisch und Gewürzen. Der Duft umwölkte die Tür und drang durch die stickige Luft. Lucretia spürte, wie der Stein ihres Hungers sich zu regen begann. Dann wurde die Quelle des Dufts sichtbar. Ein junger Mann in roter Livree trat hinter Pole hervor. Sonderbar, einen Bewohner der Küche hier oben zu erblicken, dachte Lucretia, den Blick auf das Servierbrett und die dampfende Schüssel gerichtet.
»Sir William hat Euch einen Koch bestimmt«, erklärte Mister Pouncey, »in Rücksicht auf Euer neues Gelübde. Er wird Euch das Gericht des heutigen Tages schildern.«
Ihr Blick gelangte zum Gesicht des Livrierten.
John senkte den Blick.
Diesem Augenblick hatte er mit Unbehagen entgegengesehen, seit Scovell und Mistress Gardiner ihn von der Anordnung des Haushofmeisters unterrichtet hatten. An diesem Morgen hatten die anderen
Köche ihn hochleben lassen, und Peter Pears hatte ihm so heftig auf den Rücken geklopft, dass er fast die Brühe verschüttet hätte.
»Auf, John, auf!«, hatte Adam Lockyer ihm nachgerufen. »Wie sollte Lady Lucy dir widerstehen können?«
Ihre Miene zeigte eine Mischung aus Verächtlichkeit und Gelangweiltheit. Mister Pouncey, Mister Fanshawe und Mistress Pole warteten.
»Das ist eine Lammbrühe, Euer Ladyschaft«, sagte John. »Sie wird aus Filets vom zartesten Teil des Nackens bereitet. Das Fleisch wird am Knochen gesiedet, bis man das Mark herauslösen und gehackt in die Brühe geben kann ...«
Wenn er den Blick ganz leicht zur Seite richtete, konnte er ihr Spiegelbild in dem Wandspiegel am Ende des Zimmers sehen. Lucretia hörte ungerührt zu, während er sich mit seiner Schilderung abmühte.
»Dann wird die Flüssigkeit reduziert. Nun zu den Gewürzen ...«
Er versuchte sich vorzustellen, er stünde in der Küche. Als erklärte er das Gericht Simeon oder einem anderen Küchenjungen. Hesekey. Nicht einer verachtungsvollen Lucretia Fremantle. Gardiner und Pole nickten zufrieden. Dann öffnete Lucretia zu seiner Verblüffung den Mund.
»Wie faszinierend.«
Sie klang nicht, als wäre sie fasziniert. Aber sie schien sich auch nicht über ihn lustig zu machen.
»Nach dem letzten Würzen wird die Flüssigkeit durchgeseiht«, sprach John weiter.
»Wahrhaftig? Und wie?«
Diesmal warf John ihr einen Blick zu.
»Ein Durchschlag ist zu grobmaschig«, sagte er. »Ein Sieb aus Pferdehaar würde verkleben. Wir verwenden ein Sieb aus feinem Drahtgeflecht.«
Lucretia stand auf und spähte in die Schale.
»Ihr habt den Tag damit zugebracht, diese Brühe zu kochen?«, sagte sie.
»Ja, Euer Ladyschaft.«
Die junge Frau beugte sich über den aufsteigenden Dampf und atmete ihn begierig ein. Dann nahm sie zu Johns Überraschung die Schale mit beiden Händen. Sie würde
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