Das Festmahl des John Saturnall
richteten sich immer häufiger an Lucretia, fiel John auf. Wenn er mit den anderen hinaushumpelte, musste er Ephraims hochmütiges Lächeln über sich ergehen lassen. Der kalten und kahlen Kapelle entkommen, vertrieb er die Schmerzen in Beinen und Knien auf langen Umrundungen des Hauses. Doch jedes Mal stieg er zuletzt durch das hohe Gras der Wiese oberhalb der Kapelle bergan. Am Tag des heiligen Andreas wehte ein kalter Wind, aber John spürte ihn nicht. Er sah zu der Kapelle hinunter und versuchte sich vorzustellen, was sich innerhalb ihrer Wände abspielen mochte.
Die Fensterhöhlen blieben dunkel. Aus der Kapelle drang kein Laut.
Langsam legte sich der Wind; der hohe Turm dräute vor dem sich verdüsternden Himmel. Weiter oben verdichtete sich die graue Wolkendecke. Als John aufsah, wehten erste Schneeflocken herunter. Und dann hörte er einen Schrei.
Das war nicht ihr Gesicht, hatte Lucretia gedacht, als sie in der Nacht vor ihrem Hochzeitstag in den Wandspiegel starrte. Nicht ihre Arme und nicht ihre Beine. Nicht ihre Brüste und nicht ihre Scham ... Es schüttelte sie bei dem Gedanken daran, was der nächste Tag bringen würde. Der Gang in die Kapelle mit Piers’ feuchter Hand, die sich um ihre schloss. Um sie herum war der Haushalt in fiebriger Tätigkeit begriffen, von der Dienstmädchenkammer unter dem Dach bis zu den Küchenräumen weit unten, in denen die Köche arbeiteten.
Er war dort unten. Bereitete das Festmahl zur Feier ihrer Hochzeit vor. Morgen würden seine Gerichte eine neue Täuschung begehen, einen neuen Betrug. Wie sie selbst. Sie musste nur die Worte sprechen, ermahnte sie sich. Gemma machte sich an ihr zu schaffen, kämmte und kräuselte ihr Haar. Dann näherten sich schwere Schritte im Gang. Die Schritte ihres Vaters.
Der breitschultrige Mann stand in der Zimmertür, wie er in der Sonnengalerie gestanden hatte, als düstere Gestalt, die das Licht verdunkelte. Auf eine Handbewegung Sir Williams verschwand Gemma beflissen. Lucretia sah, wie er den schweren Goldring an seinem Finger drehte. Er war gekommen, um seinen Triumph zu genießen, dachte sie. Seinen Sieg über sie auszukosten. Dann sprach ihr Vater.
»Du hast mich nie gefürchtet, nicht wahr? Auch wenn ich dir Vorhaltungen machte. Du hast nie mit der Wimper gezuckt oder dich gefügt. Wenn ich Gehorsam von dir verlangt habe, hast du dich widersetzt. Meine Tochter.«
Sie starrte ihn an, zu verblüfft, um zu antworten. So hatte er noch nie zuvor mit ihr gesprochen. Oder sie gar »meine Tochter« genannt.
»Ich habe Euch die Ehrerbietung erbracht, die Euch gebührt, Vater«, sagte sie schließlich. Ihr Vater nickte.
»Dieses Tal von Buckland war immer unser Vermächtnis«, fuhr er fort. »Der erste Fremantle gewann es für uns. Das ist unser Bündnis und unser Eid, eingegraben am Fuß seines Grabmals. Dass wir das Tal Generation auf Generation halten sollen. Doch der Herr gibt und der Herr nimmt, wie unsere Vorfahren erfahren mussten. Dort oben in seinem Turm sieht er immer noch dorthin zurück, von wo er kam.«
Er drehte den Ring an seinem Finger, immer wieder, immer wieder.
»Auch ich war so waghalsig zurückzublicken. Als ich Lady Anne zum ersten Mal erblickte, war mir, als hätte der Herr mir das Glück geschenkt, dessen sich alle Menschen zu Beginn der Schöpfung erfreuten. Adam und Eva können nicht glücklicher gewesen sein, als wir es waren.« Er blickte auf den Tisch mit ihrem Stickmuster, wo die Legende »Piers« über ein unbeholfenes Bildnis gestickt war. »Und nun, am Vorabend deiner Vermählung, wirst vielleicht auch du solches Glück ermessen?«
Er sah sie an. Aber Lucretias Verlangen hatte sich von der ungelenk mit Kreuzstich gestickten Figur entfernt. Piers’ käsige Visage war hinter einem dunkleren Gesicht verschwunden, das einem Mann gehörte, dessen rote Livree mit alten Flecken besprenkelt war. Er hatte ihr zu essen gegeben. Sie hatte sich für ihn in das Kleid gehüllt und hatte sich vorgestellt, dass seine Hände die Seide um sie herum drapierten.
»Ja«, sagte ihr Vater. »In deinen Augen sehe ich die gleiche Seligkeit.«
Demütig senkte sie den Kopf.
»Der Herr hat mir mein Glück genommen«, sagte er. »Die Vorsehung, die Lady Anne und mir solche Freuden schenkte, bescherte mir solchen Kummer, dass ich meiner Liebsten ins Grab gefolgt wäre, ungeachtet des Verbots, das der Herr über solches Tun verhängt hat. Nur ein Versprechen hielt mich aufrecht. Ein Versprechen, das ich deiner Mutter
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