Das Festmahl des John Saturnall
John begriff, dass Seth ihn gemeint hatte. Dann sagte Abel: »Was meinst du, John?«
Auf dem Dorfanger spielte er mit der Mütze Fangen, und Seths Ball warf er gegen die Kirchenmauer. Er lieferte sich mit den anderen Wettläufe um den Teich herum und spielte mit ihnen Verstecken unter
den Bäumen im Obstgarten der Chaffinges. Als die Schatten der Mauer länger wurden, ging er mit Cassie und Abel den Weg an der Rückseite der Häuser entlang, und ihm war, als berührten seine Füße kaum den Boden. Er schwebte über den Zauntritt und über die Lehmklumpen von Feld und Wiese. Als sie den Rand des Dorfs erreichten, streckte Cassie die Hand zum Boden aus und ergriff einen Kieselstein. Sie holte eine mit Kreuzen bestickte Börse hervor und legte den Kiesel hinein.
»Das war gut, was du gesagt hast«, sagte John schüchtern.
»Und was war das?«
»Dass du für mich gebetet hättest.«
»Ich habe wirklich für dich gebetet, John.« Sie lächelte ihn an. »Willst du wissen, was Gott gesagt hat?«
John nickte.
»Er hat gesagt, du würdest mir helfen.«
»Und wie?«
»Er hat gesagt, du würdest mir helfen, die Hexe zu finden«, sagte Cassie.
»Welche Hexe?«
»Die Hexe, die uns unsere Mary weggenommen hat.«
Cassie sah auf, über die Hecke, die das Ende des Felds markierte, und den Abhang hinauf bis zur dunklen Linie der Bäume auf dem Kamm.
Bevor sie weitersprechen konnte, erklang Marpots Handglocke vom Dorfanger. Im nächsten Augenblick kam Abel angeschlendert, zertrat mit seinen Stiefeln die Lehmklumpen.
»Bruder Timothy ruft«, sagte er grinsend zu seiner Schwester. »Du wirst ihn doch nicht warten lassen, Cassie?«
Cassie bedachte ihren Bruder mit einem mitleidigen Blick und wendete sich dann wortlos ab. Die Jungen sahen ihr nach, als sie über das Feld lief und der braune Wollstoff ihr um die Beine flatterte. Abel sagte zu John:
»Hat sie dir erzählt, dass sie mit Gott redet?«
»Sie hat nur gesagt, dass sie betet«, sagte John unbeholfen.
Abel schnaubte; dann warf er seinen blauen Überrock ab, hob einen Stein auf und wog ihn in der Hand.
»Weißt du, wie man Steine wirft?«
John schüttelte den Kopf.
»Willst du es lernen?«
»Das hier war einst ein Garten«, sagte seine Mutter zu ihm. »Vor langer Zeit. Alles, was der Mensch brauchte, wuchs hier.«
Der Tau benetzte ihre Beine, ihre Körper warfen lange Schatten im frühmorgendlichen Sonnenlicht. Seine Mutter trug das Buch in ihren Armen. Der versprochene Unterricht hatte begonnen.
»Wessen Garten?«, fragte John und blickte den Abhang bis zum Wald empor. »Bucclas Garten?«
Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Es gab keine Buccla.«
»Aber die Hexe ...«
»Es gab keine Hexe.«
»Aber die Leute sagen ...«
»Die Leute sagen alles Mögliche. Ich kannte einmal einen Mann, der in jeder Sprache unter der Sonne alles sagen konnte, was er wollte. Und nichts davon war wahr. Komm jetzt.«
Sie erreichten die erste Böschung und kletterten hinauf. Johns Arm schmerzte noch, doch jedes leise Ziehen erinnerte ihn an Cassies Worte vor der Kirche, an die Spiele, die er auf dem Dorfanger gespielt hatte, an die Steine, die er mit Abel geworfen hatte. Seine Mutter und er kletterten weiter, bis die Bäume im Obstgarten von John Chaffinge wie Kleehalme aussahen. Die Viehtränke neben den Stallungen schien kaum groß genug für eine Ameise zu sein. Winzige Hütten und Häuser säumten den keilförmigen Dorfanger, auf dem der alte Brunnen sich wie ein Fingerhut ausnahm. Darum herum versahen die kahlen Stellen der Tränen Sankt Clodocks das Gras mit Pockennarben. Gegenüber von Old Holys Haus warteten Leute mit Eimern und Kannen an dem neuen
Brunnen. Hinter ihnen beschirmte eine Reihe von Buchen die Rückseite von Marpots Haus und die Scheune der Huxtables. Seine Mutter schlug das Buch auf.
»Schau her. Fingerhut.« Ihr Finger umrundete trompetenförmige Formen und zeigte dann auf einen Stiel voll purpurner Glöckchen. »Fingerhut. Für das Herz. Und das daneben ist Echtes Labkraut. Gut bei Schnittwunden. Hier ist Wurmfarn, hier Wacholder, hier Raute. Herbstzeitlose. Gut bei Gicht. Braunheil lindert Verbrennungen. Gilbweiderich beruhigt Ochsen. Man hängt ihn ihnen um die Hörner, heißt es. Glaubst du das, John?«
Er lächelte und schüttelte den Kopf.
»Du hast recht. Nun sieh, wie es geschrieben wird ...«
Sie saßen zusammen hoch oben am Abhang, die Köpfe über die Seiten gebeugt, während die Finger der Mutter die fremden Formen nachzeichneten,
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