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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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ihre sanfte Stimme sie aussprach, damit er die Silben wiederholte. Als ihre Ausflüge sich häuften, wurde das Kräuterbuch seiner Mutter seine Fibel, mit der er das Abc lernte, indem er die Namen den Bildern auf den Seiten zuordnete. Seine Schulstube waren die überwucherten Berghänge. Dort hissten Wurzeln und Stengel ihre bunten Wimpel, während die schwarzen Zeilen des Buchs in zahllosen Grünschattierungen leuchteten.
    John kletterte Terrassen und Böschungen hinauf und hinunter, erkundete die verborgenen Durchgänge im Dornengestrüpp und kroch durch Höhlungen, gebildet von Ranken mit spitzen Stacheln. Brombeeren lockten ihn in sonnengetüpfelte Kammern. Alte Nebenwege wurden unpassierbar und neue öffneten sich, wo Nesselbüschel vordrangen und dann abstarben. Die Sonne brannte erbarmungslos, bis das Gras des Dorfangers verdorrte. Doch an den Hängen gediehen die Halme so üppig wie zuvor. Quellen verliefen unter dem Rasen, erklärte ihm seine Mutter. Genug Wasser für einen ganzen Fluss. Gemeinsam pflückten sie pfeffrige Brunnenkresse am Rand morastiger Wasserstellen und gruben winzige süßschmeckende Möhren aus, dunkelviolett in der staubigen Erde. Kleeblüten spendeten ihren Honig, und pappige
Malvenfrüchte schmeckten nussig. Winzigkleine Erdbeeren versteckten sich unter gezackten Blättern, süße Brombeeren reiften hinter Palisaden fingerzerstechender Dornen. John leckte sich den blutroten Saft von den Fingern, und sein Dämon kostete den Geschmack.
    »Der Milchsaft dieser Blumen löst jeden Schmerz«, erklärte ihm seine Mutter auf einer Wiese voll hoher Mohnpflanzen. »Man mischt ihn in ein Getränk. Aber nur ganz wenig, denn sonst träumt man sich in den Wahnsinn.«
    Wiesenkerbel war nicht weniger gefährlich. »Wenn du noch länger an der Pflanze ziehst«, sagte Johns Mutter, »wird einer von uns tot umfallen.«
    John zog die Hand zurück, doch seine Mutter brach in Gelächter aus. »Und zieh auch keine Alraunwurzeln aus dem Boden«, keuchte sie. »Und wünsch dir nicht zuviel, wenn du ein vierblättriges Kleeblatt findest. Glaub nicht alle alten Geschichten, die du zu hören bekommst.«
    Sie meinte die Hexe, das wusste er. Doch sein Geist wanderte zu Ephraim Cloughs Behauptung zurück und zu der Frage, wo sie gelebt haben mochten, bevor sie in das Dorf kamen. Denn hinter jener Frage ahnte John ein noch größeres Geheimnis. Ein Gesicht, dessen Züge nie erkennbar wurden. Er hatte sie nur ein einziges Mal nach seinem Vater gefragt. Ihre Antwort war so erbittert ausgefallen, dass er nie wieder zu fragen gewagt hatte. Ich habe ihn nie gekannt, hatte sie gesagt. Er konnte nicht einmal den eigenen Namen nennen, ohne zu lügen ...
    Jeden Tag stiegen sie ein wenig höher. Die Kammlinie wand sich vom Westen her, die Hänge mit Schafen gesprenkelt. Am Fuß der Berge erstreckte sich das Marschland der Tiefebene nach Süden und Westen. Weit weg erhob sich der Berg namens Zoyland Tor über den fiedrigen Rauchwolken der Torffeuer und dem von Entwässerungsgräben durchzogenen Tiefland.
    Dort hielt Jesus Christus sich einst auf, hatte Pater Hole ihnen erzählt. Zusammen mit Joseph von Arimathia hatte er einen Dornbusch gepflanzt. Nun grasten Herden wilder Büffel auf den Marschen. Jedenfalls behauptete das Jasper Riverett. Die Römer hätten sie hinterlassen.
Im Süden erstreckte sich das Tal von Buckland, mit Dörfern übersät, die sich in die Mäander des Flusses schmiegten. Je höher John kletterte, desto weiter reichte sein Blick, bis sie das dichte Dornengestrüpp erreichten und er und seine Mutter das ganze Tal sehen konnten.
    John hatte noch nie so weit gesehen oder sich vorgestellt, dass man so weit sehen konnte. Sein Blick folgte den breiten Schleifen des Flusses, bis sie sich verengten und zuletzt zu einem silbernen Faden verrannen. Noch weiter weg verlief eine Hügelkette, ein winziges Torhaus unterbrach die Bäume. Und dann erblickte er ein größeres Gebäude, von gedrungenen Türmen eingefasst.
    Ein großes Herrenhaus, das aussah, als durchbräche es das Grün und als streckte es zwei Flügel aus wie ein großer steinerner Vogel, der die Erde von sich abschüttelt. Doch anstelle von Federn wuchsen Reihen von Fenstern bis zu einem borstigen Plateau hinauf, wo Kuppeln und Türmchen Kuppeldächern und Turmhelmen den Platz streitig machten oder zu unsichtbaren Innenhöfen abfielen. Überragt wurde es von einem Turm hinter dem Gebäude, dessen steil geneigtes Dach wie eine Messerklinge nach oben

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