Das Festmahl des John Saturnall
denjenigen unter ihnen, die sich versündigt hatten, Strafen zumaß.
»Sie ziehen sie nackig aus.« Diese rätselhaften Worte sagte Abel eines Sonntags zu John. »Cassie hat mir das erzählt.«
Ein ungebetenes Bild erschien vor Johns innerem Auge; Marpot, der Cassie aus ihrem braunen Wollkleid schälte. Ihren blassen sommersprossigen Körper.
»Sie bekommen nur ein Leintuch,« fuhr Abel fort. »Sie hatten in Eden keine Kleider an, sagt Marpot. Und alles, was sie aßen, pflückten sie von den Bäumen. Alles, was sie zu trinken hatten, war Wasser.«
Dando Candling nickte. »Unser Pa sagt, wenn Marpot Eden so liebt, warum geht er dann nicht selber nackig herum?«
»Vielleicht tut er es«, mischte sich Seth ins Gespräch.
Die Jungen kicherten. Aus dem Haus ertönte Marpots Stimme.
»Und der Herr sprach zu Moses und sagte: Wenn eine Frau ihren Blutfluss hat, so soll sie sieben Tage für unrein gelten. Wer sie anrührt, der wird unrein bis zum Abend. Und alles, worauf sie liegt, solange sie ihre Zeit hat, wird unrein, und alles, worauf sie sitzt, wird unrein ...«
»Gideon wollte ihn nicht als Aufseher«, sprach Seth weiter. »Die Cloughs haben ihn dazu überredet. Und der alte Holy hat einfach nachgegeben.«
»Er hat auch das Bierfest verboten«, murmelte Tobit. »Nach dem, was er getan hat.«
John wendete den Blick ab, als er sich an die schwarzgekleidete Gestalt auf dem Dach erinnerte. An die Gesichter der Dorfbewohner im Fackellicht.
»Dieses Jahr ist es nicht verboten«, piepste Dando. »Das hat Gideon meinem Pa gesagt.«
Abel grinste. »Das wird Marpot nicht passen.«
Marpots Stimme verstummte. Stattdessen ertönte holperiger Gesang. Doch eine Melodie klang aus dem eintönigen Singsang klar und hell heraus. Eine Mädchenstimme stieg aus den anderen Stimmen empor: Cassies Stimme.
Sie hatte ihn bei jenem ersten Mal nur aufgezogen, dachte John inzwischen. Von Hexen war seitdem nie mehr die Rede gewesen. Oder davon, dass John ihr helfen sollte. Die Jungen blickten zu dem steinverkleideten Haus mit den geschlossenen Fensterläden hinüber, auf dessen Dach die Sonne ihre Strahlen warf. Drinnen würde es heiß sein, dachte John. Er stellte sich vor, wie sie in Reihen knieten, im Halbdunkel Psalmen sangen. Und Cassie, deren Gesang zum Himmel stieg.
Es war später Nachmittag, als er zu Hause ankam. Seine Mutter nickte und lächelte, als er die Tür öffnete.
Inzwischen erwartete ihn kein Ausfragen mehr. Er schlich nicht
mehr hinter ihr vorbei, bemüht, die neueste Ernte an Kratzern und Wunden zu verbergen. Nun kletterten sie fast jeden Morgen zusammen die Abhänge hinauf. Von oben betrachteten sie das Gras des Dorfangers, das verdorrte, je länger der Sommer voranschritt, bis Sankt Clods Tränen in der braunen Wüstenei nicht mehr auszumachen waren. Oben an den Hängen schien die Sommerhitze noch tieferes Grün aus dem Boden zu locken. John und seine Mutter wanderten über einen raschelnden Teppich aus Wicken und Wiesenschwingel oder bahnten sich ihren Weg durch das Gebüsch, platschten durch Quellen, die sich aus dem Rasen ergossen und in verborgenen Kaskaden durch das Gras flossen.
Nachmittags kletterte seine Mutter zu der Barriere aus Brombeerranken hinauf. Dann ging John seine eigenen Wege an alten unkrautüberwucherten Beeten entlang, wo er Kräuter ausfindig machte oder nach Erdbeeren suchte. Kaninchen liefen aufgescheucht vor ihm davon, verschwanden mit blitzenden weißen Schwänzchen im Unterholz. An den heißesten Tagen zog sich John in den Schatten von Holunder und Esche zurück, bis seine Mutter wiederkam, mit überquellender Sammeltasche atemlos den Hang hinunterstapfte. Zusammen stiegen sie zu ihrer Hütte zurück. Dort wartete das Buch auf ihn.
Jeden Abend brütete er über den Seiten, und seine Zunge bildete die unvertrauten Wörter. John sah mit zusammengekniffenen Augen auf die Buchstaben und mühte sich durch Haine von Dattelpalmen und Wiesen voller Krokusse. Er arbeitete sich durch Gruppen von Mispeln oder Pflaumen und dann durch Obstgärten voller Äpfel und Kirschen und Birnen. Eine Seite umgeblättert, und unvorstellbare Geschöpfe erhoben sich aus einem Meer: große schuppige Fische, riesige Aale und Ungeheuer mit langen Tentakeln. Oberhalb der Wellen war eine Insel mit steilen Ufern zu sehen.
»Das ist der Zoyland Tor«, rief er, und er sah, dass seine Mutter nickte.
»Alles ringsum war einst ein Meer«, sagte sie. »Ganz Zoyland und Mere war jeden Winter vom Meer überflutet.
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