Das Festmahl des John Saturnall
zu suchen. Seine Nase leitete ihn durch den Wald. Jenseits der Allee aus Kastanien wuchsen Zuckerwurzel, Gelbdolde und Ginster in Büschen. John jagte Kaninchen oder erkletterte Bäume auf der Suche nach Vogeleiern. Er
brachte Malvensamen oder Kastanien mit, die sie zu Mehl zerstampften. Die der Jahreszeit spottenden Obstgärten spendeten winzige rot und golden gestreifte Äpfel, harte grüne Birnen und saure gelbe Kirschen. Doch jeder neue Morgen war kälter. Jeden Tag musste John sich weiter vorwagen. Jede Nacht legten er und seine Mutter sich mit Bauchgrimmen nieder.
Als der erste Frost einsetzte, gefror der Boden. Johns Mutter kauerte sich hustend in die Ecke des Kamins neben dem flackernden Feuer. Jeden Morgen zerbrach John das Eis auf dem Trog mit seiner Tasse. Wenn er im Wald nach Nahrung suchte, klebte die feuchte Kleidung an seiner Haut, bis Kälte und Erschöpfung zu einer einzigen Sinneswahrnehmung verschmolzen.
Im Frühjahr würden die Straßen wieder offen sein, sagte er sich. Sie würden nach Carrboro oder nach Soughton gehen. Doch eines Tages fand er seine Mutter bei der Rückkehr außerhalb der Feuerstelle kauernd vor, zusammengekrümmt wie ein wildes Tier über seiner Beute, und der Boden vor ihr war voller Blutspritzer. Als er auf die roten Flecken starrte, spürte er eine neue Art von Kälte, als würde er von innen erfrieren.
»Was sollen wir tun?«, fragte er sie an jenem Abend. Als Antwort holte sie wieder das Buch hervor. Doch nun zitterte es, als sie es hochzuheben versuchte.
»Ich habe versprochen, dich zu lehren«, sagte sie.
»Du hast gesagt, wir würden hierher gehören«, erinnerte er sie.
»Das tun wir auch. Nicht nur hierher, John.«
Die Kälte hatte ein wenig nachgelassen. Dorthin würden sie gehen, dachte er. Dort würden sie leben. In Carrboro oder Soughton. Vielleicht im Gutshaus von Buckland ... Er sah zu, wie sie das Buch aufschlug. Wieder blickte er auf den Kelch voller Wörter, auf die drei Schriften, die einander überlagerten. Seine Mutter fuhr mit den Fingern über die Reben, die sich um den Kelch schlangen.
»Das war der erste Garten«, sagte sie.
»Das war Eden«, sagte John.
»So haben sie es später genannt.« Sie klopfte auf die Buchseite. »Am Anfang wuchs dort alles, was grünt. Alle Geschöpfe gediehen. Die ersten Männer und Frauen lebten einträchtig. Sie kannten weder Hunger noch Schmerzen. Damals begingen die Menschen das Fest des Saturnus.«
Die anderen Gärten, erinnerte sich John. Saturnus’ vor langer Zeit verstorbenes Volk in seinem längst vergangenen Garten. Doch was war mit ihrem eigenen Fest? Mit seinem Fest und dem seiner Mutter?
»Doch dann kamen ihre Feinde«, fuhr seine Mutter fort. »Sie verehrten einen anderen Gott. Einen eifersüchtigen Gott. Seine Priester nannten ihn Jehova. Sie schmähten Saturnus als eitlen Götzen, der sein Volk zur Sünde verführt habe. Ihre Eintracht sei Sinneslust, sagten die Priester. Ihr Behagen sei Faulheit. Ihr Fest sei Gier.«
John beobachtete ihre Hände, von der Kälte gerötet, die den Zeilen der verblichenen Tinte folgten, als könnte sie die fremden Wörter mit den Fingerspitzen erfühlen.
»Dieses Leben sei als Prüfung gedacht, behaupteten Jehovas Priester. In diesem Leben müssten die Menschen ihr Brot im Schweiß ihres Angesichts verdienen. Frauen müssten ihre Kinder unter Schmerzen gebären, und die Starken herrschten über die Schwachen. Erst im Königreich Jehovas hätten ihre Mühen ein Ende, und nur Jehovas Priester könnten sie dorthin führen, denn dieser Ort läge jenseits des Todes. Das erzählten die Priester ihrem Volk. Doch das Volk des Saturnus wusste es besser. Dieses Volk brauchte keine Priester und keine Anführer. Es wusste, dass es jenseits des Todes kein Königreich gab. Sein Himmel war im Diesseits.«
»Der Garten«, sagte John und bewegte sich auf dem kalten harten Boden.
»Ja«, antwortete seine Mutter. »Und Jehovas Priester wussten das auch, und dieses Wissen entfachte einen schrecklichen Zorn in ihnen. Und deshalb zerstörten sie den Garten. Sie sagten ihrem Volk, Jehova habe sie alle Evas Sünde wegen aus dem Paradies verstoßen. Saturnus’ Volk wurde zerstreut.«
John runzelte die Stirn. »Aber Bellicca hat den Garten hierher gebracht. Und das Fest.«
»Sie haben es aufgeschrieben, diese ersten Männer und Frauen.« Sie legte eine Hand flach auf das Buch. »Hier drinnen. Und diejenigen, die nach ihnen kamen, haben es fortgeschrieben, Generation um Generation.
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