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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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Baumwipfel ragte ein schlanker Turm in die Luft. John ergriff seine Mutter am Arm.
    »Sieh nur, Ma!«
    Die Spitze des Turms deutete nach oben wie ein gekerbter Finger. Die Mauern waren von Rissen zerklüftet. Johns Mutter nickte nur kurz und bewegte den Vorhang aus Efeu. John sah durch einen Tunnel geborstenen Mauerwerks in einen unkrautüberwucherten Innenhof.
    Schwere Steinplatten ragten vom Boden auf. Ungefüge Steinbrocken lagen, wie sie gefallen waren. Von Efeu und Ranken überwucherte Mauern umschlossen das längliche Rechteck eines Saals ohne Dach. Der Turm war ein Schornstein, begriff John. Unten grinste die Feuerstelle einen zahnlosen Willkommensgruß. Und auf einmal wusste John, wo er war. Diesen Ort hatte er immer wieder gesehen, auf jeder Seite großartiger. Er wendete sich zu seiner Mutter um.
    »Das war Bucclas Palast.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich habe es dir doch gesagt. Es gab keine Buccla.«

    »Aber die Hexe ...«
    »Es gab keine Hexe.«
    Er sah sie verärgert an. Doch bevor er etwas erwidern konnte, sprach seine Mutter weiter.
    »Sie hieß Bellicca«, sagte sie. »Sie kam her, als die Römer sich zurückzogen. Sie pflanzte und hegte alles Grüne. Sie brachte das Fest in das Tal. Bis Sankt Clodock seinen Eid schwor und mit Axt und Fackel hier herauf marschiert kam ...«
    »Es stimmt also ...«
    Sie sah zu John hinunter.
    »Was soll stimmen? So hieß er gar nicht. Buccla hieß Bellicca. Und er hieß Coldcloak, wie Tom Hob gesagt hat. Hüter des Waldes, bedeutet das. Er kam jedes Jahr hier hinauf zu Belliccas Fest. Er saß mit ihr unter ihrem Volk. Manche behaupten, sie seien ein Liebespaar gewesen. Aber dann leistete er einen Eid bei den Priestern von Zoyland. Er kam und zerhackte ihre Tische zu Feuerholz. Er stahl das Feuer aus dem Herd. Er verwüstete ihre Gärten und lief weg ...«
    »Wohin?«, fragte John.
    »Wer weiß?« Seine Mutter zuckte die Achseln. »Er verschwand unten im Tal.«
    John musste an die kahlen Flecken auf dem Dorfanger denken. »Aber er hat um sie geweint.«
    »Und wenn schon! Er hat sie verraten. Denn alle Priester haben Bellicca verflucht und als Hexe verurteilt. Sie haben das Tal für Jesus Christus und für ihre eigenen Zwecke in Besitz genommen. Die Leute haben Saturnus vergessen. Fast alle. Bellicca und ihr Volk wurden aus dem Tal vertrieben bis hinauf in diese Wälder ...«
    »Was ist aus ihnen geworden?«, fragte John.
    »Sie sind immer noch da«, sagte sie.
    John riss die Augen auf und sah sich dann in den Ruinen um, als könnte Belliccas Volk sich aus den Bäumen herabschwingen. »Und wo?«
    Ein schwaches Lächeln glitt über das Gesicht seiner Mutter. »Zuerst haben sie sich in diesen Wäldern versteckt«, sagte sie. »Sie haben Kastanien
gemahlen, um daraus Brot zu backen. Sie haben die Äpfel aus den alten Obstgärten gepflückt. Sie haben das Fest begangen, so gut sie konnten. Später haben sie Saturnus auf andere Weise gewürdigt. Sie tun es heute noch.«
    Mit dem Blick suchte John die geborstenen Mauern, die Feuerstelle, das dichte Gestrüpp dahinter ab. Beobachtete das Volk des Saturnus sie in diesem Augenblick? Doch während er sich suchend umsah, lachte seine Mutter verhalten.
    »Sie haben seinen Namen angenommen«, sagte sie. »Saturnall. Das ist unser Name, John. Das war unser Zuhause.«
     
    Die Tasche barg eine Schachtel mit Zunder, den Umhang seiner Mutter, ein Messer mit kurzer Klinge, eine Tasse und das Buch. Sie schliefen in den Umhang gehüllt, an der Feuerstelle zusammengeschmiegt, um einander zu wärmen. Sie tranken aus einer Quelle, die einen alten Steintrog hinter der Ruine füllte. Dahinter erstreckten sich überwucherte Beete und Pflanzungen, wie John sie nie zuvor erblickt hatte: riesige harzige Wedel, stachelige Sträucher, lange graugrüne Blätter, die scharf schmeckten. Dazwischen verborgen entdeckte er die Wurzel, deren Duft wie ein Gespenst zwischen den Bäumen umging, süß und teerhaltig. Er kniete nieder und drückte die Pflanze an die Nase.
    »Man nannte sie Silphion.« Seine Mutter stand hinter ihm. »Sie wuchs in Saturnus’ erstem Garten.«
    Es gab also mehr als nur einen, dachte John.
    Seine Mutter zeigte ihm die ältesten Bäume in dem Obstgarten, deren knorrige Stämme Flechten bedeckten. Palmen waren dort einst auch gediehen, sagte sie. Inzwischen waren nicht einmal mehr ihre Stümpfe zu sehen.
    Jeden Tag machte John sich von der ummauerten Feuerstelle auf, um in den Überresten von Belliccas Gärten nach Nahrung

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