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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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die seine Mutter ihn an den Hängen hingewiesen hatte, zusammen mit anderen, die er noch nie in der Nase gespürt hatte. Er konnte den durchdringenden Geruch der Fleischsorten riechen. Dampfender Weindunst benebelte ihn. Sein Kiefer schmerzte angesichts der Süßigkeiten, die auf silberne Platten gehäuft waren, während mit Honig gesüßter Syllabub in Schälchen zitterte. Er spürte die Knusprigkeit des Gebäcks, das vor geschmolzener Butter glänzte. Er hörte das Knistern des gesponnenen Zuckers. Die Süßspeisen überschwemmten seine Sinne, vertrieben Hunger und Kälte. Eine lange Prozession von Gerichten schwebte von den Seiten empor und gehörte ganz ihnen.
    »Du kannst sie schmecken, nicht wahr?«
    Er nickte.
    »Ich wusste es. Seit ich dich geboren habe. Wir haben das Fest immer begangen. Über alle Generationen hinweg.«
    Er dachte an all die Tage, die er die Abhänge entlanggewandert war. An all die Abende, die er sich über das Buch gebeugt hatte, mit brennenden Augen und vor lauter neuen Wörtern schmerzendem Kopf.
    »Nun wirst du es begehen John. Für uns alle.«

    Die Worte bohrten sich ihm wie Dornen ein.
    »Alle?«
    »Ich habe es dir erzählt«, sagte seine Mutter. »Der Garten war für alle. Wir waren einst alle das Volk des Saturnus. Und deshalb begehen wir das Fest. Wir begehen es für alle ...«
    Sie sah auf die Buchseite, und John folgte ihrem Blick. Zuerst begriff er nicht. Doch dann sah er die Gesichter.
    Sie befanden sich hinter den Tischen, Männer und Frauen in Kitteln und Röcken, die Gesichter mit verblasster Tinte gezeichnet. Volle Wangen und buschige Augenbrauen. Eine große dichtgedrängte Versammlung von Schmausenden ... Doch als John auf das Bild starrte, war ihm, als starrten die Dörfler zurück. Bei ihrem Anblick spürte er die schwelende Kohle in seinem Inneren erglühen.
    Sie hielt ihn zum Besten, sagte er sich. Das war ihre letzte Rätselfrage. Im nächsten Augenblick würde sie lächeln und es ihm erklären. Glaub nicht alles, was die Leute erzählen ... Doch sie blickte ihn nur aus eingesunkenen Augen an.
    »Wir begehen es für sie?«, wiederholte John.
    »Für sie alle.«
    Bei diesen Worten glühte die Kohle noch heftiger.
    »Sie haben es vergessen«, sagte sie. »Weiter nichts. Sie haben das Fest vergessen. Haben vergessen, wie die ersten Männer und Frauen lebten. Zufrieden und einvernehmlich. In Eintracht ...«
    Aber John empfand weder Zufriedenheit noch Eintracht. Er sah die Fackel ihren brennenden Bogen durch die Dunkelheit beschreiben, sah die groben Gesichter näherkommen. Ephraim Clough, der sich unter Johns Faust duckte. Tief in seinem Inneren spürte er nicht die Labsal des Gewürzweins, sondern auflodernden Zorn.
    »Aber sie haben uns vertrieben«, rief er heftig. »Sie haben unser Zuhause niedergebrannt. Sie haben dich als Hexe geschmäht! Sie hassen uns! Sie haben uns immer gehasst!«
    Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Seine Mutter schüttelte den Kopf.

    »Es gibt noch mehr zu lernen, John«, sagte sie und atmete mühsam. »Wichtigeres als deinen Zorn. Und es gibt jene, vor denen du dich hüten musst. Die das Fest suchen. Die es zu ihren eigenen Zwecken missbrauchen wollen ...«
    »Das Fest gehört uns!«, rief er. »Nicht ihnen! Uns!«
    Er sprang auf.
    »John, warte, ich muss dir noch mehr sagen ...«
    Doch nun brannte das Strohdach wieder, und die roten Flammen züngelten in die Dunkelheit. Er tat ihre Bitte schroff ab.
    »Ich wünschte, du wärst eine Hexe!«, rief er erbittert. »Ich wünschte, du hättest sie alle vergiftet!«
    Er drehte sich um und stolperte aus der Feuerstelle, von ihrer Stimme verfolgt, als er zu dem Tunnel lief. Er schob den ledrigen Efeu beiseite. Dann rannte er in den Wald, und ihre Stimme wurde schwächer.
    John, warte, ich muss dir noch mehr sagen  ...
    Er hatte genug gehört, sagte sich John, als er sich durch die niedrigen Äste zwängte. Ringsum die Umrisse der Kastanien. Die eisigkalte Luft führte die Gerüche des Waldes in Schichten mit. Schließlich raubte der Husten seiner Mutter den Atem. Als er ihre Stimme nicht mehr hörte, ließ er sich zu Boden fallen.
    Die Nacht war noch kälter als die Nächte zuvor. In einer Bodensenke unter einer Decke aus Laub verfiel John in einen Halbschlaf, in dem die Gesichter der Dörfler im Fackelschein vor ihm schwebten und die Flammen in den Nachthimmel aufschossen. Als es dämmerte, war sein Zorn gewichen. Er wollte ihn begraben, beschloss er. Ganz tief begraben, wo niemand

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