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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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auf einem Stein buken. Paradiesbrote nannte seine Mutter die angekohlten Teigfladen. Belliccas Volk hatte sich davon ernährt. Das Volk des Saturnus habe immer im Zeichen des Fests gelebt, erklärte sie. Nun würden sie und John es genauso halten.
    Das würden sie tun, dachte John, während er die kahlen Zweige nach Essbarem absuchte. Das Fest gehörte ihnen. Er kratzte die letzten vertrockneten Kastanien von dem gefrorenen Boden und machte sich in den Obstgärten auf die Suche nach Früchten. Jeden Abend schmiegte er sich nach dem Vorlesen an seine Mutter, um Wärme zu finden, und spürte, wie sie in den dunklen Stunden bis zur Morgendämmerung zitterte. Dann war es wieder Zeit für die Nahrungssuche.
    Die Fülle in Bucclas Wald begann zu versiegen. Kastanien gab es keine mehr, und die übriggebliebenen Äpfel waren braun und faulig. Johns gerötete Finger schmerzten vor Kälte, aber es kümmerte ihn nicht. Sie mussten nur bis zum Frühling durchhalten. Seine Mutter wartete nur darauf, dass die Straßen wieder passierbar waren. Dann konnten sie aufbrechen. Sie konnten das Fest mitnehmen und gehen ...
    So brachte er seine Tage zu. Er zerbrach gerade die Eisschicht in dem Steintrog, als Flügelschlagen ihn erschreckte. Er hob den Blick und sah ein struppiges Etwas durch die bereiften Zweige herunterfallen, eine Wildtaube, die schlaffen Flügel im Sturz ausgebreitet. Oben kreiste ein Habicht.

    John lief zu seiner Mutter, die warme Beute in Händen. Mit vor Kälte steifen Fingern rupfte er die Taube, griff zum Messer und säuberte sie, so gut es ging. Er briet den Vogel über dem Feuer. Als er gar war, teilte John ihn in zwei Hälften. Doch seine Mutter lehnte ihren Anteil ab.
    »Iss du.«
    Ihre Zuflucht sei das Buch, sagte sie. Speis und Trank seien ihr die Worte darin. Er nickte, während er das warme Fleisch des Vogels von den Knochen nagte. Danach blätterte er die Seiten mit fettigen Fingern um, beschwor Feuer gegen die Kälte herauf und Tische, die sich unter den Speisen bogen. Seine Mutter verbesserte ihn, wenn er sich verlas, und ließ ihn die Sätze wiederholen, bis er sie auswendig wusste. Jeden Morgen war die Eisschicht in dem Trog dicker als am Vortag. Johns Mutter nahm nur noch Wasser zu sich. Wenn sie hustete, drehte sie sich weg, damit er das Blut nicht sah. Das Fest würde sie durch den Winter bringen, sagte sich John wieder. Die Straßen wären wieder passierbar. Nach Carrboro oder nach Soughton.
     
    Jeden Abend las John weiter aus dem Buch vor. Jeden Abend wurde das Festmahl üppiger. Seine Mutter schlief inzwischen den Großteil des Tages über und sammelte ihre Kräfte für die Zeit, wenn sie sich auf das Zuhören konzentrierte. Schließlich gelangte er zu der letzten Seite. Doch als seine Finger umblättern wollten, hob seine Mutter die Hand.
    »Warte.«
    Verwundert sah er auf. Der flackernde Feuerschein warf ihre Schatten auf die umgestürzten Steine. Er sah, wie die Arme seiner Mutter sich um den dunklen Block des Buchs schlossen. Er hörte das dicke Papier knistern, als sie die letzte Seite umwendete. Er senkte den Blick.
    Der Palast war auf den vorherigen Seiten abgebildet gewesen. Doch nun befand der Betrachter sich in dem großen Saal des Hauses. Ein Feuer loderte in dem gewaltigen Herd, und jenseits der gewölbten Fenster lagen die Gärten aus dem Buch: die Obstgärten, Wälder und Flüsse und sogar eine Meeresküste ...
    Es war das Tal, erkannte John. Doch das Tal vor langer Zeit. Durch
die Fenster sah er die Terrassen, die er hinauf und hinunter geklettert war. Unten waren ihre Hütte und sogar der Trog mit Quellwasser zu sehen. Eine Kirche gab es nicht, doch das lange und breite Tal erstreckte sich hinter dem Dorfanger, und die Mäander des Flusses führten Johns Blick an weiteren Obstgärten, Gärten, Teichen, Wiesen und Feldern vorbei. Die Marschen des Tieflands waren ein glitzerndes seichtes Meer, ganz so, wie seine Mutter es geschildert hatte. Daneben zogen sich Belliccas Gärten das ganze Tal entlang. Und im Inneren des Palasts waren alle Früchte dieser Gärten versammelt.
    Die großen Tische aus Kastanienholz ächzten unter dem Gewicht von Platten, Brettern, Tellern, Schüsseln und Schalen. Das ganze Fest war vorhanden. Jedes Wort aus dem Buch, jede Frucht aus den Gärten, alles, was grünte, jedes Geschöpf, das lief oder schwamm oder flog. John spürte, wie sein Dämon sich bemerkbar machte, als eine große Welle von Düften und Aromen ihn durchschwemmte, all die Gerüche, auf

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