Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
Vom Netzwerk:
In dem Fest haben sie ihren Garten versteckt. Alles Grüne, das wächst. Alle Geschöpfe, die gedeihen. Sie alle hatten ihren Platz am Tisch des Saturnus.«
    Zwischen ihnen glomm rot das Feuer. Die geborstenen Mauern und die schweren Baumkronen erhoben sich drohend hinter ihnen. Dünne Rauchwölkchen stiegen aus der Glut den Schornstein hinauf. John sah zu, wie die Finger seiner Mutter die Stämme der großen Palmbäume mit ihren Trauben von Datteln berührten. Von den Zweigen hingen Bienenstöcke, die vor Honig überflossen. Darunter sprenkelten Krokusse den Boden. Dann fuhren ihre Finger über die seltsamen Symbole in dem Kelch, und sie begann wieder zu sprechen:
    Dattelpalmen wuchsen in dem ersten Garten. Bienen füllten die Waben in den Bienenstöcken, und Krokusse spendeten ihren Safran. Möge das erste Gericht ausreichend sein, auf dass alle ihren Becher hineintauchen können. Möge das Fest mit gewürztem Wein seinen Anfang nehmen ...
    Als sie an dem Kelch entlangfuhr, spürte John, wie sein Dämon sich regte. Neue Wärme breitete sich in seinen Gliedern aus, nicht der Zorn, den ihm die Dörfler eingeflößt hatten, sondern ein Gefühl, als füllte warmer Wein seinen Bauch und besänftigte die glühende Kohle mit seiner Labsal. Die schweren Düfte stiegen ihm in die Nase. Die geistige Mischung dampfte in ihrem imaginären Gefäß, von John so lebhaft empfunden, als hätte er den eigenen Becher in die glänzende Oberfläche getaucht. Das hatte sie ihn lehren wollen, dachte er. Deshalb hatte er so viele Stunden über das Buch gebeugt verbracht. So wie sein Hunger wich, wich auch sein Zorn. Das Fest war ihr Fest, dachte er. Es würde immer ihr Fest sein. Während seine Mutter weitersprach, überkam ihn merkwürdige Zufriedenheit.

    Der zweite Garten wurde in der Luft angelegt. In den Baumwipfeln mästete Saturnus Lerchen und Reiher. Kiebitze und spitzschnabelige Schnepfen schaukelten auf den hohen Zweigen. Alle Wildvögel vermehrten sich in ihren Nestern ...
    Die Dörfler hatten von Amseln und Krähen gegrölt, erinnerte sich John.
    Hühnerfüße als Süßigkeiten, hatten die Frauen in der Hütte gesagt. Nun flatterten fremdartige Vögel aus den Baumwipfeln auf. Jeder Garten spendete ein einzigartiges Gericht. John saß am Feuer, und sein Magen knurrte und ächzte. Doch hinter seinem Hunger keimte ein neues Verständnis, als hätten die Gerichte von Saturnus’ Fest hier oben schon immer auf sie gewartet.
    In dieser Nacht schien der Husten seiner Mutter nachzulassen. Auch ihr Zittern legte sich. John schlief ungestört neben der Feuerstelle.
    Danach nahm seine Mutter jeden Abend das Buch zur Hand. Der dritte Garten war der Fluss mit den Fischen, die im Wasser auf und ab sprangen. Der vierte war das Meer mit seinen kriechenden Krebsen, und dann kamen die Obstgärten. Das »Häuschen«, das er erblickt hatte, wuchs mit jedem neuen Erscheinen, wurde zu einem Herrenhaus und dann zu einem Palast mit hoch aufragendem Schornstein. Tagsüber schmerzte Johns Magen wie zuvor. Doch wenn es dunkelte, erfüllte das Fest des Saturnus Belliccas zerstörten Saal. Nacht für Nacht erschienen die Früchte aus dem Garten des alten Gottes auf einer endlosen Abfolge von Servierbrettern ...
    John konnte sich an das alte Mauerwerk des Kamins lehnen, die Augen schließen und die Worte zusammen mit seiner Mutter aufsagen. Als er seine Mutter fragte, wie es komme, dass sie die fremden Zeichen aussprechen konnte, verfinsterte sich ihre Miene.
    »Ein kluger Mann hat sie mir erklärt«, sagte sie kurz angebunden. »Ein Mann, der in jeder Zunge unter der Sonne sprechen konnte.«
    Und in keiner die Wahrheit sagen, erinnerte sich John. Er beugte sich vor, um weiterzufragen, doch im selben Augenblick musste seine Mutter wieder husten. Er schwieg.

    Als der Winter voranschritt, nahm ihre Erschöpfung zu. Sie konnte das schwere Buch kaum noch halten. Zuletzt nahm John es ihr aus den Händen und begann die einzelnen Wörter der Gerichte selbst laut vorzulesen. Er sah, dass seine Mutter sich erleichtert an die Wand des Kamins zurücksinken ließ. Seine Stimme sei ihr genug Nahrung, sagte sie. Wenn er spreche, fühle sie weder Hunger noch Kälte. Jeden Abend wagte er sich weiter in das Buch und seine Gärten vor. Jeden Abend erstand eine Vielzahl von Gerichten des Festmahls, und seine Mutter lächelte, als könnte sie die reichen Aromen kosten und die Wärme der Feuer spüren.
    Ihr Brot bestand aus Kastanienmehl, das sie mit Wasser verkneteten und

Weitere Kostenlose Bücher