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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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gebracht worden war, und hatte neugierig hinter einem Heuhaufen hervorgespäht. Nun blickte sie wieder auf die Worte vor ihr. Solche Hingabe hatte in der Kirche nichts zu suchen. Begierig las sie weiter.
    Ein Gürtel aus Stroh und Efeuknosp’,
Korallene Spangen und Bernsteinknopf:
Nimmst du mit diesen Freuden vorlieb,
Dann lebe mit mir, mein Herz, mein Leib.
    Kleine Herzen verzierten die Seitenränder. Feine Schleifen und Girlanden ringelten sich unter den nächsten Versen. Der Schäfer wollte seiner Liebsten ein Bett aus Rosen bereiten. Er wollte sie mit Blumen bekränzen, mit einem blätterbestickten Umhang und mit einem Gewand aus Schafwolle bekleiden. Lucretia stellte sich die eigene Taille vor, mit gewobenem Stroh umgurtet und mit Knöpfen verziert. Unwillkürlich begannen ihre Wangen zu brennen.
    »Gemma!«, rief sie vom Bett aus. »Komm her!«
     
    Sie verbarg das Buch in der Truhe mit den Decken, zwischen den lavendelduftenden wollenen Schichten, in denen Pimpernel, Lady Whitelegs und die anderen ihren Aufenthalt hatten. Jeden Abend, wenn die letzte Kammerfrau sich zurückgezogen hatte, schoben die beiden Mädchen einen Stuhl unter die Türklinke und kauerten sich auf das Bett.

    Ich lass dich kosten honigsüßen Seim,
So kühl, als hüllte er den heißen Evaapfel ein,
Und möge deiner Launen hitzig Glut
In meinen kühlen Worten finden Ruh ...
    »Das sind nur geschwollene Ausdrücke für Bratäpfel in gesüßter Milch«, befand Gemma. »Das hat meine Ma uns zu essen gegeben, als wir klein waren.«
    Sie lasen weiter. Ihr Vater hatte diese Verse geschrieben, das wusste Lucretia. Ihre Mutter hatte sie gelesen und hatte sie erwidert. Lucretia wusste, was sich hinter den atemlosen Ausrufen der Liebenden verbarg. Aber wie konnte ein so erdferner Austausch zu dem Akt führen, den sie in den Stallungen beobachtet hatte?
    Beherrsche meinen Geist, Hand, Auge, Stimme ohnegleich ...
    Sie und Gemma untersuchten ihre Augen in dem Wandspiegel auf Unvergleichlichkeit. Sie verglichen ihre Hände. Sie erwogen die Qualität ihrer Stimmen. Sie lasen, bis die Kerze tropfend erlosch, und am nächsten Tag saßen sie gähnend vor Mistress Pole. In dem stickigen Schulraum, der ehemaligen Kinderstube, schrieben sie Stellen mit, die ihnen die Erzieherin aus dem Hilfreichen Wegweiser für fromme Kinder diktierte. Als Mistress Pole die Hand hob, um Mister Fanshawe unten beiläufig zu grüßen, musste Lucretia an ihre Schäfer und Nymphen denken. Die Mädchen wechselten einen Blick und unterdrückten ein Kichern. Pole klopfte mit dem Rohrstock auf das Pult.
    »Es gelüstet Euch vielleicht nach einer Abschrift in Latein?«
    Die Schäfer waren verkleidete Prinzen, sagte sich Lucretia. Die Liebenden waren Ritter. Wenn sie auf ihrer höckerigen Matratze lag, dachte sie an Betten aus Rosenblättern. Wenn sie ihr dunkelgrünes Kleid anzog, dachte sie an Gewänder aus weicher Wolle. In jenem Winter spazierten die Schatten von Freiern durch die Dunkelheit hinter dem Eis, das ihre Fenster überzog. Wenn sie allein im Bett lag, drückte
sie die Handflächen auf die Wangen und phantasierte, ihre Hand wäre die eines anderen. Wenn Gemma ihr vor dem Nachtmahl das Korsett schnürte, stellte Lucretia sich vor, dass ein Gürtel mit korallenen Spangen und Bernsteinknöpfen um ihre Taille gelegt würde.
    Aber die schattenhaften Freier blieben Schatten. Wenn Gemma ihre Toilette beendet hatte, ging sie nur zu dem Wintersalon hinter dem Eingangssaal hinunter. Wo das übliche Prozedere ihrer harrte. Keine honigtriefenden Worte, sondern Poles eisiges Stirnrunzeln. Keine Damen aus dem Kabinett der Königin, nur Pimpernel, Whitelegs und die Übrigen. Sie hatte die ganze Nacht in der Sonnengalerie gelegen und von leidenschaftlichen Schäfern oder verkleideten Prinzen geträumt, von Galanen, die sie weit weg von Buckland entführten ...
    Stattdessen war ein zerlumpter Junge eingedrungen.
    Sie erinnerte sich an seinen zerrupften Schopf und an seinen blauen Überrock, den er sich eng um den Leib geschlungen hatte, um den abscheulichen Zustand seiner Kniehose zu bemänteln. Aber unter dem Schmutz war er wohlgestalt, das musste sie zugeben. Seine dunklen Augen hatten sie aufmerksam betrachtet. Markante Wangenknochen verliehen seinem Gesicht fast etwas Edles. Ein verkleideter Prinz hätte zu so einer Maskerade greifen können, phantasierte sie für einen Augenblick. Sie hätte seine ungehobelten Manieren entschuldigt, wie er da auf allen vieren vor ihr lag,

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