Das Festmahl des John Saturnall
Kuhhirte kann ansehnlich sein, Gemma«, antwortete eine hochmütige Stimme. »Aber vermutlich hat er Mist an den Stiefeln kleben und kaut an einem Strohhalm.«
»Piers Callock ist kein Kuhhirte«, erwiderte Gemma. »Er ist der Sohn eines Grafen. Sir Hector von Forham und Artois. Ginny hat gehört, wie Mister Pouncey das Mistress Pole erzählt hat. Piers wird nächstes Jahr volljährig. Er ist schon bei Hofe vorgestellt worden.«
»Bei Hofe?« In Lucretias Stimme stahl sich leise Neugier.
»Und er reitet sehr gewandt«, fuhr Gemma fort. »So gewandt wie fast kein anderer auf den Gütern seines Vaters, hat Mister Pouncey gesagt.«
»Dann könnte man also fast sagen«, und bei diesen Worten wippte Lucretia auf ihren Absätzen vor und zurück, »dass er ein Mann ist?«
Auf Augenhöhe mit den Schuhen spürte John unwiderstehliches Gelächter in sich aufsteigen. Er bezwang es mannhaft.
»Fast«, stimmte Gemma zu. »Allerdings ...«
Aber Gemmas Einwand bekamen die Jungen nie zu hören, denn im selben Augenblick wippte Lucretia besonders energisch nach vorne. John hörte Stoff reißen.
»Ach, verwünscht aber auch!«
»Lucy!«, tadelte Gemma sie empört.
In der Spülküche mühte sich John, nicht loszuprusten. Hinter sich hörte er, wie auch Philip mit sich zu kämpfen hatte. Lucretia Fremantles Stiefel rutschen hin und her, als sie ihren Rocksaum zu befreien versuchte. Zuletzt kniete Gemma sich hin und löste den Kattun von einem Rosenstrauch. Im Fenster erschien ihr umgekehrtes Gesicht. Beim Anblick der beiden Jungen runzelte sie die Stirn. Dann war Lucretias Saum befreit, und ihr Rock wippte empor. John ertappte sich dabei, den weißesten Knöchel anzustarren, den er je gesehen hatte.
Im nächsten Augenblick senkte sich der rote Rocksaum. Die schwarzen Stiefel stapften davon, die braunen folgten ihnen, und nichts blieb zurück als der Duft von Rosenwasser. John sah zu Philip hinunter.
»Ich wollte dich nicht anlügen«, sagte er.
Philip sah zu ihm hinauf. »Worüber?«
»Über meine Ma«, sagte John hilflos. »Über das, was geschehen ist. Es war nicht so, wie ich sagte ...«
»Und wie war es?«
Er erzählte Philip alles: wie seine Mutter im Gutshaus gedient hatte und dann mit John in ihrem Bauch in das Dorf zurückgegangen war, wie sie Pflanzen gesammelt und ihn am Berghang unterrichtet hatte, wie Ephraim Clough und die anderen ihn verfolgt hatten. Er schilderte Cassie und Abel Starling. Sobald er begonnen hatte, konnte er nicht mehr aufhören.
Die Worte sprudelten aus ihm heraus, als er erzählte, wie die Krankheit sich ausgebreitet hatte, wie Marpots Gewissenserforschungen begonnen hatten. Wie man sie dann verstoßen hatte, wie sie in Bucclas Wald und zu den Ruinen des Palasts gelangt waren. Und zuallerletzt erzählte er die Geschichte, die er in den geborstenen Mauern vernommen hatte. Die Geschichte vom Garten des Saturnus und der Priester
Jehovas. Die Geschichte von Bellicca und Coldcloak. Die Geschichte des Fests.
»Ich dachte, meine Ma hätte das Fest für mich bewahrt«, sagte John. »Sie hatte es mir erzählt. Und als sie sagte, es wäre für jeden da, bin ich weggelaufen. Und als ich zurückkam ...«
John verstummte.
»Aber sie hat dich hierher geschickt«, sagte Philip. »Doch nicht, damit du Geschirr abwäschst, oder?«
John schüttelte den Kopf. »Sie hat hier früher gedient«, sagte er. »Doch dann muss etwas geschehen sein. Etwas, weshalb sie nicht länger bleiben konnte.« Er entsann sich der bitteren Worte seiner Mutter über den Mann, der in allen Zungen sprechen konnte. Ihrer Warnung vor jenen, die sich das Fest zu ihren eigenen Zwecken zunutze machen wollten. Sie hatte ihm noch mehr sagen wollen. Und er war weggelaufen...
»Scovell hat sie gekannt«, fuhr John fort. »Deshalb hat er mich aufgenommen, nehme ich an.« Er sah Philip an. »Und nicht wegen John Saturnalls fabelhafter Nase.«
Er wagte ein zaghaftes Lächeln, aber Philip hielt den Blick gesenkt.
»Ich bin nicht wie du, John«, sagte er leise. »Dir fällt das leicht. Aber ich kann nicht einfach meine Nase in einen Topf stecken und alles aufzählen, was drin ist. Keiner hat mit der Schöpfkelle auf den Kessel gehauen, als Philip Elsterstreet in die Küchenmannschaft eingetreten ist. In meinem ersten Winter hier saß ich im Hof und hab Vögel gerupft. Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis ich in die Vorbereitungsbrigade gekommen bin. Dieses Küchenreich ist alles, was ich hab. Und jetzt sitzen wir in der Spülküche
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