Das Feuer Kabals
Zahn der Zeit, bot keinen vertrauenerweckenden Halt. Sie eilte auf dem Sims mit einer todesverachtenden Schnelligkeit voran, die ein Beobachter nur mit Entsetzen oder Erstaunen hätte wahrnehmen können. Doch hier draußen war niemand. Möwen und andere Küstenvögel protestierten lautstark, als sie über Nester und Vogelkot hinwegsprang. Siebzig Schritt unter ihr schlugen die Wellen gegen die Felsen. Der Vorsprung wurde etwas breiter und endete plötzlich auf einer Terrasse, die aus dem Felsen getrieben worden war. Eine bröckelige Balustrade und eine bronzene Laterne, die nie mehr brennen würde, waren die letzten Hinweise auf die frühere Nutzung. Die Natur hatte den Ort vor langer Zeit zurückerobert.
Cendrine warf einen Blick auf den Horizont. Ein seltsames Lichtphänomen erschien dort. Ein sanfter, trüber Schein, der sich in den Sternenhimmel hineinreckte. Er veränderte sich nicht und Cendrine erinnerte sich mit stechenden Kopfschmerzen an eine Erklärung dafür.
Zodiakallicht. Sternenstaub reflektiert das Licht der beiden Sonnen unseres Systems.
Sie gab sich einen Ruck, eilte voran. Den Kopfschmerz abzuschalten, glückte ihr nicht - er pochte ununterbrochen zwischen ihren Schläfen. Sie ignorierte die Panik, die sie daraufhin zu übermannen drohte, und rannte weiter.
Ich habe verlernt, Schmerzen zu fühlen. Fühle ich überhaupt noch etwas?
Auf der gegenüberliegenden Seite der Terrasse schloss sich ein breiter Weg an, der teilweise vom Felsen darüber überhangen wurde. Herabgefallene Brocken und alte Nester bedeckten den Boden, der von der zähen Vegetation der Küstenregion beherrscht wurde. Hinter der Balustrade am Wegesrand war das Meer zu sehen und in der Tiefe dröhnte die Brandung. In der Dunkelheit erkannte sie das felsige Ufer nur schemenhaft. Nirgendwo brannte ein Licht. Die Siedlungen und Städte rund um das Orakel von Khuranc waren vor langer Zeit verlassen worden.
Der Weg schlängelte sich hinab, über lange Treppen und zahlreiche Absätze, bis Cendrine die Gischt auf der Haut spürte. Sie erreichte die Bucht. Der Einschnitt in die Steilküste war rund 3500 Schritt tief. Auf Meereshöhe lag der Hafen, mit seinen allmählich zerfallenden Piers und Hafenmauern. Dahinter befanden sich hohe Lagerhäuser mit soliden Fundamenten und eingefallenen Dachstühlen. Straßen führten aus dem Hafengebiet in das Wohngebiet, das bis an die Felskante gewachsen war, und in dem das Durcheinander der Häuser und Gassen einen verwirrenden Anblick bot. Das Orakel lag in der Mitte der Ortschaft, zwischen den prächtigen Säulen, die Wind und Wetter noch trotzen würden, wenn die Küstenstürme alle anderen Gebäude längst zu feinem Sand zermahlen hätten. Cendrine lächelte. Sie liebte das Orakel. Es war uralt und hatte sich nie verändert. Es ruhte wie ein Anker in ihrem Gedächtnis. Eines Tages würde hier wieder ein lebendiger Ort sein. Und die Säulen und der Tempel und die Treppe des Orakels würden immer noch stehen. Cendrine betrat Khuranc, das zuvor Kolmari und lange davor Livrana genannt worden war. Sie hatte jeden dieser Orte gekannt. Sie war schon hier gewesen, als er aus kaum mehr als ein paar Fischerhütten und hölzernen Anlegestellen bestand, denen niemand einen Namen geben wollte. Das Orakel hatte damals schon gestanden, mit seinen fünf Säulen und seinem Tempel. Cendrine sah die helle Treppe, die dem Wasser in der Bucht entstieg und in direkter Linie zum Heiligtum führte. Die flachen Stufen war ebenso beständig wie die Säulen und das Orakelgebäude selbst. Sie reichten hinab bis ins Meer, das vor der Bucht ungewöhnlich tief war. In der Dunkelheit unter den Wogen gab es einen Punkt, an dem man Kabal verließ und eine andere Welt betrat. Einmal war Cendrine dahin gegangen. Vor langer Zeit.
Sie hielt inne und rieb sich die Schläfen.
Warum muss ich mich in letzter Zeit ständig an Früher erinnern? Sucht mein Verstand in der Vergangenheit nach einer Lösung für die Probleme der Gegenwart?
Cendrine atmete ein paar Mal tief ein und aus und schaute zum Orakel hinauf. Mikar und Thanasis hatten sicher auch ihre Gründe hier zu sein. Sie hoffte darauf, heute Nacht nicht nur die beiden mächtigsten Männer Iidrashs zu finden, sondern auch eine Antwort auf ihre eigenen Fragen.
Oh, Sandra, hoffentlich bist du da!
Sie verfiel in einen Laufschritt und versuchte den direktesten Weg zum Orakel zu finden. Die Gebäude Khurancs waren zu Ruinen zerfallen, die Straßen von Buschwerk und umgefallenen
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