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Das Feuer von Konstantinopel

Das Feuer von Konstantinopel

Titel: Das Feuer von Konstantinopel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingmar Gregorzewski
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Felix sah Baptist an, als wüsste der vielleicht die Antwort.
    „Glaub’ mir, ich würde dir gerne Antworten geben, Felix“, sagte Baptist.
    „Ach ja? Wann?“ wollte Felix wissen. Baptist hatte ihn neugierig gemacht.
    „Weiß ich nicht“, antwortete Baptist ziemlich einsilbig.
    „Du und deine Sprüche. Unglaublich. Schon als du zu uns kamst, fand ich die komisch. Du tatest so fromm, sprachst dauernd von Gott...!“
    Baptist wurde mit einem Mal ärgerlich.
    „Hör auf damit!“, fauchte er Felix an.
    Beide Jungen schwiegen. Aus den Schornsteinen der Häuser und Hütten stieg Rauch auf und wurde zu Nebel. Die Menschen, die sich heute etwas zu Essen erbeuten konnten, fingen an, an ihren Feuerstellen zu kochen. Es bildete sich eine Dunstglocke über dem Armenviertel, Abend für Abend.
    „Der Nebel kommt heute früh“, sagte Baptist nach einer Weile. Er wirkte wieder nachdenklich. „Am besten ist es, wir reden nicht mehr über schlimme Sachen. Am besten ist es, wir leben einfach so, wie es uns bestimmt ist.“
    Felix hielt Baptist die Hand hin.
    „Schlag ein!“, sagte er. „Wir wollen zusammenhalten, egal, was kommt!“
    Ohne zu zögern schlug Baptist ein. Wie einen Schwur wiederholte er die letzten Worte:
    „...egal, was kommt!“
    Plötzlich ertönte eine Stimme. Sie schallte von unten aus der Gasse.
    „Baptist!“, rief die Stimme.
    Baptist sprang auf. Er hatte es eilig.
    „Ich muss jetzt los“, sagte er zu Felix.
    „Baptist! Hier her! Zu mir, Baptist!“, tönte die Stimme.
    Felix sah Baptist nur an. Er fragte jetzt nichts mehr.
    „Ich glaube, er saugt meine Seele aus. Du musst mir helfen, Felix. Verlasse mich nicht.“
    Mit diesen Worten verschwand Baptist durch die Dachluke, zurück ins Hotel Giraffe .
    Felix blieb alleine zurück.
    „Er spricht mit Zungen, vom Feuer zerteilt. Er spricht mit den Seligen und den Engeln im Himmel...! – Kommt, Leute, kommt!“, rief die Stimme erneut. Felix kannte sie natürlich, er kannte sie nur zu gut. Es war die Stimme des Kardinals.

 
    8.
     
    Wisst ihr, was eine Prophezeiung ist? Wisst ihr, warum die Menschen um jeden Preis die Zukunft vorhersehen wollen? Warum sie ihr Schicksal bezwingen wollen, mit Kräften, denen sie nicht gewachsen sind? Warum sie nach Mächten und Zauberern rufen, deren Nähe sie nur fürchten können? Ob arm, ob reich – ihr findet sie überall. Menschen, die Antworten in einer Welt suchen, die nicht die ihre ist. Antworten aus der Welt der Geister und des Glaubens und des Unerklärlichen. Doch wer bringt sie mit dieser Welt in Kontakt? Einer aus ihrer Mitte solle es den Erdenbewohnern gefälligst erklären, einer solle sie bei ihren Hoffnungen beraten und Wunder wahr werden lassen. Und diese Rolle hatten sie Baptist zugedacht. Ein Bettlerjunge, der weder schreiben noch lesen konnte, der nie in seinem Leben eine Schule von innen gesehen hatte, der am wenigsten galt – der also sollte Kontakt aufnehmen zur Welt der Antworten. Er war ihr Medium, ihn hatten die Menschen als Vermittler zwischen der Geister- und der Menschenwelt auserkoren.
     
    Aber warum gerade ihn?
     
    Einige sagten, es habe damit zu tun, dass sie bei seiner Taufe einen Engel durch die Kirche schweben sahen. Der Engel schloss die Augen, als er die kleine, zerlumpte, von Madame Dolly angeführte Taufgesellschaft das Kind über das Taufbecken halten sah. Das Kind, das Dolly Tags zuvor von der schluchzenden Mutter, einem Dienstmädchen, arm und nicht mit großen Verstand gesegnet, in einer der dunklen Gassen des Armenviertels in den Arm gedrückt bekommen hatte. Unerkannt verschwand die unglückliche Mutter danach. Sie sah einfach keine Möglichkeit, für ihr Kind zu sorgen, dazu fehlte das Geld. So wurde sie nie wieder gesehen.
    Jeder im Krätzeviertel war davon überzeugt, dass der kleine Baptist schon bald sterben würde – ein Kind ohne Eltern, ohne Liebe. Doch der Junge überlebte. Madame Dolly konnte ihn zwar nicht verkaufen, aber in der Nachbarschaft wurde er immer wieder weitergereicht, von einer armen Familie zur nächsten.
    Eines Tages lief Baptist dem Kardinal buchstäblich in die Arme. Eine Kinderbande verfolgte ihn, um ihm ein Stück Brot zu entreißen. Der Kardinal vertrieb die bösen Jungen und Mädchen und nahm Baptist an sich. Er brachte ihn im Hotel Giraffe unter. Madame Dolly war außer sich. Ein Kind war das letzte, um das sie sich kümmern wollte. Sie ekelte sich regelrecht vor Kindern. Sie nahm die Neugeborenen den ledigen, verzweifelten

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