Das Feuer von Konstantinopel
Felix hinterher und klang dabei viel freundlicher.
„Ja und?!“, gab Esther zurück.
„Ich kenne sie aus Konstantinopel. Eine Sängerin hat sie auf der Straße gesungen. Sie hieß Sonja. Mit dieser Melodie verhext du Baptist, stimmt’s? Sie hat sie ihm immer vorgesungen!“, sagte Felix.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Es gibt viele Melodien. Tausende. Millionen. Jeder kennt eine!“, antwortete Esther ganz ruhig. Sie wollte sich nicht weiter aufhalten lassen und endlich gehen.
„Sie ist tot!“, rief Felix.
Esther blieb stehen. Für einen Moment überlegte sie und kehrte dann zurück zu Felix an den Lattenverschlag.
„Sonja ist tot!? Das ist ja schrecklich. Weiß Baptist davon?“, fragte sie mit echter Sorge in der Stimme.
Felix schüttelte nur stumm den Kopf.
Esther kam näher. Dicht vor Felix blieb sie stehen. Die beiden trennten nur noch die Holzlatten des Verschlages. Sie sahen einander in die Augen, als Esther zu sprechen begann:
„Das Geld, das mein Vater in der Lampenfabrik verdient, reicht nicht aus. Wir sind elf Kinder. Vater, Großvater und ich machen Musik bei Watzke. Wir sind froh darüber. Es bringt uns wenigstens ein Essen am Abend. Und manchmal werfen uns die Leute auch Münzen auf die Bühne...“
„Oder tote Ratten!“, fuhr Felix fort.
Esther musste lachen. „So übel ist es hier nicht! Die Polka macht alle verrückt!“
Felix holte tief Luft. Er war erleichtert, dass Esther so offen zu ihm war. Jetzt konnte er ihr guten Gewissens trauen.
„Danke, dass du gekommen bist, Esther. Danke, dass du nach mir gesehen hast“, sagte Felix.
„Achte auf Baptist, Felix. Er braucht dich. Er ist viel zu schwach, um alleine durchzukommen. Er hat niemanden außer uns“, fuhr Esther mit ernster Stimme fort.
„Er sagte, meine Eltern sind in einer Stadt mit drei Namen. Weißt du, was das bedeutet?“, fragte Felix.
„Nein“, antwortete Esther ihm. „Es spricht aus ihm. Er weiß hinterher selber nicht, was das alles zu bedeuten hat. Das musst du alleine herausfinden.“
„Er meint, dass meine Eltern noch leben“, sagte Felix voller Hoffnung.
„Er irrt sich niemals. Das ist das Einzige, was ich dir sagen kann!“, antwortete Esther.
„Ich muss hier raus!“, rief Felix und rüttelte an den Holzlatten. „Bitte!“
Esther sah den Glanz in Felix’s Augen.
„Wir alle brauchen Freiheit, Felix. Auch du! Gott stellt uns Menschen auf die Probe. Er hat uns nicht im Paradies gelassen. Er wollte es anders. Je eher du dich damit abfindest, desto besser! – Leb’ wohl!“
Durch die Latten hindurch reichte sie ihm den Schlüssel, drehte sich um und verschwand wieder, genauso leise, wie sie gekommen war.
„Esther!“, rief ihr Felix nach. „Esther, so warte doch!“
Er hielt den Schlüssel fest in seiner Hand. Wie hatte das Mädchen am Ende nur gesprochen? Die Worte könnten auch von Baptist stammen. Felix war sich jetzt sicher, dass der Junge all sein Wissen von Esther hatte. Sie brachte ihm alles bei.
Und etwas wusste Felix jetzt ganz genau: Er musste Esther unbedingt wiedersehen. Und wenn er dazu selbst ein Juwelenräuber werden müsste.
Draußen vor der ‘Neuen Welt’ wartete die Kutsche der Kaiserin. Wassermassen fielen vom Himmel, als schütte jemand von oben das Meer aus.
Der Kardinal war an das Seitenfenster der Kutsche getreten und eine der Damen in Schwarz sprach durch das halboffene Fenster zu ihm. Es war die Opernsängerin Erna Klimovskanowa aus St. Petersburg. Sie war die beste Freundin und engste Vertraute der Kaiserin. Wie erbärmlich der Kardinal in diesem Moment aussah, untertänig wie ein geprügelter Hund. Seine tropfenden Haare klebten in seinem nassen Gesicht. Schutzlos war er dem Regen ausgesetzt. Aber das schien ihn nicht weiter zu stören. Er hatte nur Augen für die schöne Sängerin.
„Mein Gott, wohnen Sie jetzt hier?“, flüsterte Erna Klimovskanowa voller Entsetzen und blickte dem Kardinal ungläubig in die Augen.
„Es tut mir leid, Sie so beschämen zu müssen. Aber dies ist nur vorübergehend mein neues Domizil“, antwortete er.
„Was ist aus Ihrem Haus in der Pappelallee geworden?“, wollte die Sängerin wissen.
„Ich musste es verkaufen. Soviel ich gehört habe, ist es abgebrannt. Ich erwarte eine größere Summe Geld, bald...!“
Die Sängerin unterbrach ihn ungeduldig, als hätte sie nicht mehr viel Zeit: „Werden Sie wieder spielen?“
„Nein!“ Der Kardinal hob den roten Handschuh in den Regen. „Die Hand ist für
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