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Das Feuer von Konstantinopel

Das Feuer von Konstantinopel

Titel: Das Feuer von Konstantinopel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingmar Gregorzewski
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anderen Tag blieb er in der Wohnung, die er von Stund an nicht mehr verließ. Nach gut zwei Wochen kam der Rabbiner schwer atmend die vier Stockwerke zu ihm hoch und schimpfte den alten Mann gehörig aus, weil man an Gott nicht zweifeln dürfe. Aber Samuel blieb stur und brachte stattdessen seiner einzigen Enkelin das Geigespielen bei und entdeckte dabei ihr ungewöhnliches musikalisches Talent.
    Gemeinsam studierten sie auch die Bücher. Esther lernte schnell und ohne Mühe. Vieles von dem, was sie auf diesem Wege erfuhr, gab sie an Baptist weiter, der begierig alles in sich aufsog. Besonders gefiel dem Jungen, was sie vom ewigen Schnee in Tibet wusste. Im Gegenzug brachte Baptist Esther jene Melodie bei, die er von Sonja kannte.
    Dann bekam Samuel Silberstein von einem Tag auf den anderen heftige Gallenbeschwerden und verstarb schließlich im Schoße seiner Familie.
    In seinem Nachlass fanden sich zwei von ihm verfasste Theaterstücke mit den Titeln:
     
    „Moisches Abenteuer im Hochgebirge (Einmal und nie wieder!)“
    und
    „Irrwege der Liebe – Die Verbrechen einer Schaffnerin, Linie 9“
     
    Wenn man überlegt, dass der Name Moische für Samuel Silberstein “der-aus-dem-Wasser-gezogene” bedeutete und man bedenkt, wie wenig Spielraum geschiente Wege einer Schafferin in ihrem Leben ließen, lässt sich erahnen, dass diese Stücke beim Lesen große Heiterkeit in der Beerdigungsgesellschaft auslösten. Sie waren wahrlich voller Witz und Weisheit geschrieben. Sie gingen einem zu Herzen und verschonten ihre Figuren nicht vor den Beschwernissen des Lebens. Lachend lagen sich die Trauernden in den Armen und wussten nicht, wie das Leben ohne Samuel für sie weiter gehen sollte...
     
    Esther, die Enkelin von Samuel Silberstein, war fest entschlossen, das Haus zu verlassen, das ihrem Großvater so viele Jahre als Festung gegen fliegende Steine gedient hatte. Wenn sie auch nicht für immer gehen wollte, so doch für eine längere Zeit.
    Ihre zehn Brüder hatten sich um den Küchentisch versammelt, außerdem ihr Großvater (mütterlicherseits), ihre Mutter und ihr Vater.
    „Es wird eine Kutsche kommen, um mich zu holen!“, verkündete Esther mit ruhiger Stimme. „Ich werde erst wieder zu euch zurückkehren, wenn ich reich bin.“
    Stumm und traurig sahen ihre Verwandten sie an. Keiner wagte ihr zu widersprechen.
    „Verzagt nicht. Ich bin stark. Solange ich die Geige in den Händen halten kann, solange werde ich leben und es wird mir an nichts mangeln“, fuhr sie unbeirrt fort.
    Die Mutter wollte etwas sagen, doch Esther schnitt ihr das Wort ab.
    „Es hat keinen Zweck. Ich bin wie Opa Samuel, Gott hab’ ihn selig. Nichts und niemand bringt mich von meinem Weg ab! Auch kein Rabbi nicht!“, sprach sie voller Überzeugung.
    Der Schlafbursche, der gegen Entgelt in der Wohnung schlafen durfte und der mit dem Vater in der Lampenfabrik arbeitete, kam aufgeregt in die Küche.
    „Eine Kutsche ist vorgefahren! Auwei, die ist doch nicht etwa für uns!? Sie trägt das Wappen des Kaisers!“, rief er fröhlich in die schweigende Runde.
    Esther nahm den Geigenkasten. Der Moment des Abschieds war gekommen.
    „Geh’ nicht, Esther!“, flehte die Mutter bitterlich. „Juden holt man nicht mit goldenen Kutschen ab. Es ist die falsche Zeit dafür.“
    „Aber Mamele!“ Esther lächelte sanft. „Es gibt nur diese Zeit. Nu, wer wird s’e fürchten?“
    Unten vor dem Haus stieg Esther in die Kutsche ein. Oben lehnte die gesamte Familie aus den Fenstern und sah ihr dabei zu. Es herrschte Fassungslosigkeit. Die Mutter weinte, wie alle Mütter auf der Welt weinen, wenn ihre Kinder sie verlassen.
    Schaulustige versammelten sich, um das Märchen der Esther Silberstein aus dem Krätzeviertel selbst mitzuerleben, um es dann rasch unter den Mutlosen und Dagebliebenen zu verbreiten.
    Die Kutsche war nicht gold, sondern schwarz. Von innen hielt ein roter Handschuh Esther die Türe auf. Bevor sie einstieg, traf sich ihr Blick mit dem des Kutschers. Er trug ein schwarzes Cape und einen Zylinder. Sie erkannte in ihm den Mann, der ihr die tote Ratte auf die Bühne geworfen hatte. Voller Hass sah er von seinem Kutschbock auf Esther herab, die Peitsche in seiner Hand zitterte. Esther lächelte stolz zurück.
    „Quatschen Sie mich ja nicht an!“, drohte sie ihm, ohne ihr Lächeln zu verlieren. „Ich habe zehn Brüder, die hauen zu!“
    Der Kutscher verzog keine Miene. Aber die Beherrschung fiel ihm schwer.
    Dann blickte Esther zum Abschied

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