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Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
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doch so gefürchtet: das Läuten der kleinen Totenglocke. Aus allen Häusern und Höfen lief man zusammen, denn das musste ein unerwartetes Unglück bedeuten. Es gab Zeiten, da nahm man diesen Schall gelassener. Da wusste man, dass ein Alter, eine Alte schon seit Tagen im Sterben lag oder dass einen eine schwere Krankheit mit ungewissem Ausgang aufs Lager geworfen hatte, und da konnte dieses Bimmeln die Erlösung einer Seele vom irdischen Leid bedeuten – und sooder so kam es nicht ganz überraschend. Aber jetzt stand vorher keiner an der Schwelle des Todes, und man war nur gewahr, dass viele der Männer im Wald bei den Riesen waren, dass ein Schneetreiben eingesetzt hatte und dass – auch wenn das gewöhnlich keine wirklich gefährliche Arbeit war – am wahrscheinlichsten dort etwas passiert sein konnte.
    So strömten sie auf dem Dorfplatz zusammen, wo man nicht lange warten musste. Denn die Männer von der Holzstelle hatten sich, nachdem sie den Pfarrer geholt und zum Läuten der Totenglocke veranlasst hatten, ebenfalls hier eingefunden. Und so erzählten sie den Eintreffenden wieder und wieder, wie die zwei Stämme irgendwo auf der Riese hängen geblieben waren, wie der junge Brenner erkunden wollte, wo und weshalb dies geschehen war, wie er versucht haben muss, die Bäume freizubekommen, und wie diese sich dabei unvorhergesehen gelöst und ihn mit sich talabwärts gerissen haben mussten, in den Tod.
    Nach einer Weile, als sich der Platz schon gefüllt hatte mit Menschen und deren Entsetzen, kam auf einer der Straßen aus dem unvermindert stark herabwehenden Schnee ein Schlitten daher, begleitet von dreien der Brenner-Söhne auf ihren Rössern, und auf ihm lag deren toter Bruder. Sie hatten versucht, ihn so zu betten und sein Gesicht durch Schließen der Augen und des Mundes so zu richten, dass man ihm nicht mehr ansah, wie übel seine letzte Fahrt ihn zugerichtet hatte. Doch obwohl zudem eine Felldecke die schlimmsten Wunden des Körpers verdecken sollte, ahnte man darunter nur zu deutlich die unnatürliche Stellung der Glieder, wo es eine gar zu grausige Aufgabe gewesen wäre, die gebrochenen Knochen wieder zusammenzufügen, die ausgekugelten Gelenke wieder einzurenken. Und auch wenn ein zusammengelegter Mantel die Aufgabe hatte, dem Kopf ein nicht nur weiches, sondern möglichst stabiles Lager zu geben, erkannte man beijeder Erschütterung des Schlittens, dass der Hals diesen Kopf nicht mehr fest mit dem Rumpf verband. Und nichts hätte schließlich vermocht, dem schiefen, von zunehmend eindunkelnden Schürfungen und Prellungen in kreidweißer Haut übersäten Gesicht einen Anschein von Frieden zu geben.
    So hatte diese Erscheinung eine Wirkung auf die Versammelten, auf die sie keine Erzählung des Geschehenen hatte vorbereiten können. Ein allgemeines Stöhnen ging durch die Menge, Frauen schrien auf und wendeten sich von dem Anblick ab, Männer hielten sich mit entsetztem Ausdruck die Hand an den Mund, und viele bekreuzigten sich. Nur die Begleiter des Schlittens hatten versteinerte Mienen, waren schon jenseits jeder äußeren Gefühlsregung. Sie blieben auf ihren schnaubenden Pferden sitzen, als würde sie ihre Trauer erheben über die anderen, und umstanden den Toten wie eine Ehrengarde. Zugleich aber wirkten sie wie eine Denkmal gewordene Anklage, die das Schicksal aufforderte herzuschauen, aus wessen Mitte es sein Opfer gerissen hatte, und Rechenschaft abzulegen für seine Grausamkeit.
    Aus der Menschenmenge löste sich der Pfarrer, schritt zu dem Leblosen auf dem Schlitten und machte auf seiner Stirn das Zeichen des Kreuzes. Man merkte Breiser an, dass selbst ihm, dem harten, groben Kerl, der in seinen Predigten oft genug die Schrecklichkeiten biblischer Geschichten, das Martyrium der Heiligen oder die in der Hölle zu erwartenden Qualen in aller Deutlichkeit ausmalte, beim Anblick des geschundenen Leibs unwohl wurde. Bald drehte er sich weg und führte die Gemeinde in einem Vaterunser für die auf solch grausige Weise heimgeholte Seele an.
    In das Murmeln der Betenden mischte sich jedoch nach einer Weile von fern der Klang schwerer Hufe. Ein weiterer Schlitten näherte sich dem Platz. In dem saß ein Lebender, doch sein Antlitz war so weiß und steinern, wie es auf derhiesigen Seite zum Jenseits nur sein konnte. Es war der Brenner Bauer. Während die drei anderen sich um die Leiche ihres Bruders kümmerten, hatten die zwei ältesten seiner Söhne es auf sich genommen, zum Hof heimzukehren und die

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