Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
gelassen hatte, den jüngsten Brenner wiederauferstehen.
Es war eine liebevoll genaue Arbeit, doch ihr Ergebnis schaurig. Denn der Bursche, der da wie ein sich langsam materialisierendes Gespenst im Erscheinen begriffen war, war nicht ganz jener, der der echte Brenner-Sohn im Leben gewesen war, aber er trug auch nicht die Wundenmaske, die ihm der Tod aufgesetzt hatte. Auf den ersten Blick musste es ein Porträt des gesunden, lebendigen Mannes sein. Das Gesicht hatte wieder ebenmäßige Form, wache Augen und ein leichtes, halb ernstes Lächeln, wie es einem geziemte, der Modell stand. Aber bei längerem Hinsehen wirkte es, als hätte sich über dieses Gesicht eine Vorahnung davon gelegt, wie es im Tod erscheinen würde. Was nur ein etwas ungewöhnlicher Schattenwurf hätte sein können, sah mit anderen Augen betrachtet aus wie eine deformierende Beule. Was man als expressive Farbwahl erkennen mochte – jene roten, weißen, violetten Pinselstriche, die aus der Entfernung zu einem Hautton verschmolzen –, erinnerten aus der Nähe an Schürfwunden und Blutergüsse. Und wenn man sich auf den Übergang vom Kopf zum Rumpf konzentrierte, dann waren es womöglich nicht nur die Perspektive und der Lichteinfall, die es scheinen ließen, als hätte der Porträtierte sein Haupt seltsam schief gelegt. Doch all diese Effekte waren so subtil, dass man sich keinem von ihnen je ganz sicher sein konnte, dass man nie hätte schwören können, dass einem da das Wissen um den Vorfall des Tages und die Einbildung nicht ebenso ins Bild hineinmalten wie der Künstler. In ihrer Gesamtheit aber machten sie es genauso unmöglich, das Werk ohne ein tiefes Unbehagen zu schauen.
Gute zwei Stunden arbeitete Greider an dieser unheimlichen Figur, bis er fürs Erste zufrieden schien damit. Er räumte seine Malutensilien auf, rückte Stuhl und Tisch wiederan ihren gewohnten Platz, drehte die Lampe herunter und stellte sie neben das Bett, das er zum Schlafengehen herrichtete – und schließlich trug er die Staffelei in die Zimmerecke und deckte ein dünnes weißes Baumwolltuch über die angefangene Leinwand.
Es gab noch viel Fläche zu füllen auf diesem Bild. Betrachtete man – jetzt, da am linken Rand die eine menschliche Figur Position eingenommen hatte – die anfangs skizzierten Einteilungslinien und die Felder, die sie noch klar umrissen, dann drängte sich einem die Ahnung auf, dass es ein Gruppenbild werden sollte.
XI
Der Unglücksfall lastete schwer auf dem Tal wie der unerwartete Tod des Thronfolgers auf einem Königreich. Zwei Tage später hatte sich die Gemeinde in der Kirche versammelt, um den Trauergottesdienst und das Begräbnis zu begehen. Und wieder war der Brenner unter ihnen erschienen wie einer, der nicht recht zu ihrer Welt gehört und nur gelegentlich in diese herabstieg.
Er ging, saß und stand an diesem Tag stets umringt von seinen fünf übrigen Söhnen, und er ließ sich kein äußeres Zeichen von Schwäche oder Rührung anmerken. Keinen der anderen Talbewohner würdigte er auch nur eines Blickes. Nur wenn Pfarrer Breisers Worte zu einfach nach Trost oder Sinn in dem Geschehenen suchten, dann funkelten Brenners Augen auf, und sein Mund verzog sich, als wolle er gleich ausspucken. Doch Breiser schien schon gewusst zu haben, wo in einem solchen Fall die Grenzen seines Auftrags und seiner Befähigung lagen, und seine Predigt war kurz und versuchte nicht, die Bitternis gleich aufzulösen im Kelch desGlaubens, sondern wies nur, dass dies vielleicht dereinst möglich sein würde – und dass es des Menschen Los war, egal wie herb es schmeckte, zu schlucken, was Gott ihm eingeschenkt hatte.
Dies war eine Erkenntnis, nach der man hier oben schon lang zu leben verstand, und was immer im verborgenen Brenner-Hof vor sich gehen mochte, so kehrte das übrige Tal zu seinem Alltag zurück, auch wenn die Stimmung noch gedrückter, die Seufzer noch ein wenig häufiger waren als sonst.
Und eins gab es darüber hinaus auch hier, das sich noch nirgends lang von den Tragödien anderer Leute hatte ablenken lassen: die junge Liebe. Mag sein, dass Lukas und Luzi sich bemühten, in diesen Tagen ihr Glück weniger zur Schau zu stellen, sich in Gesellschaft der allgemein auferlegten Trauer anzupassen. Aber keiner, der sie kannte, konnte glauben, dass dies irgendetwas anderes war als Höflichkeit der Gemeinschaft gegenüber und dass darunter nicht dieselbe überquellende Freude lag wie zuvor. Zu offensichtlich wollte die sich zwischen den
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