Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
gestanden hatten, erwachte nun doch die Schaulust. Sie drängten nach vorne, um die letzte Gelegenheit zu nutzen, die Leiche in Augenschein zu nehmen. Der Schlitten, auf dem sie lag, ließ dem später angekommenen einen respektvollen Abstand, und er musste zudem wenden, um ihm auf demselben Weg folgen zu können. So erhaschten viele noch einen Blick auf seine grausige Fracht, bevor diese aus dem Dorf gebracht wurde.
Unter denen, die sich bemühten, noch einmal besonders nah an den Leblosen zu kommen – und unter diesen derjenige, der das von Blessuren übersäte Gesicht am ausführlichsten studierte –, war Greider.
Als der Platz sich schließlich geleert hatte, ging er zu seinem Maultier, das vor dem Wirtshaus angebunden war, holte seinen Zeichenblock und Kohle aus der Satteltasche und vertrautedem Papier zügig die Eindrücke von dem toten Antlitz an, solange sie in seinem Gedächtnis noch frisch und lebendig waren.
Als Greider ins Haus der Gaderin zurückgekehrt war, musste er sogleich von den schlimmen Ereignissen berichten. Die Witwe und ihre Tochter hatten sich gerade auf dem Heimweg von dem Besuch bei Lukas’ Eltern befunden, als sie die Totenglocke durch das Tal hatten läuten hören. Man hatte kurz überlegt, ob man die Kutsche wenden und ins Dorf fahren sollte, um sich zu erkundigen, was geschehen war. Doch angesichts der Kälte und des Schnees war ihnen dieser Weg zu weit und beschwerlich erschienen. Und da sie Greider ohnehin im Tal unterwegs wussten, hatten sie darauf vertraut, dass er ihnen die Neuigkeiten berichten würde, und Lukas hatte die Pferde wieder angetrieben, seine Liebste und deren Mutter schnell in ihr Heim zu bringen.
Greider erzählte sowohl, was man auf dem Marktplatz von dem Unglück erfahren konnte, als auch, was sich dortselbst abgespielt hatte. Sein Bericht war nüchtern, ohne große Anteilnahme, und die grausigen Einzelheiten über den Zustand der Leiche deutete er gerade genug an, um eine Vorstellung davon zu geben, wie erschütternd sie gewirkt hatten, ohne sich einem Reiz des Schaurigen hinzugeben.
Vor allem die alte Gaderin war voller Entsetzen und Mitleid über die Schilderungen, und auch Luzi merkte man an, dass sie davon mitgenommen war. Doch die besondere Grausamkeit des Todes beschäftigte die beiden dabei mehr als die Tatsache an sich, dass ein junges Leben genommen worden war, und als Greider auf das Erscheinen des alten Brenner zu sprechen kam, da schien das Mitgefühl aus ihren Gesichtern zu weichen. »Ja, so kann’s gehen«, sagte die Gaderin nur, mit einem seltsamen Unterton.
Greider ließ sich davon nicht verwundern, er wirkte eher froh, das ganze Thema ohne langes Nachfragen hinter sich zu bringen. Aber auch wenn an diesem Abend nach einer Weile wieder über anderes gesprochen wurde, so hatte der Vorfall dennoch nach dem so glücklich und sonnig begonnenen Tag einen Schatten der Bedrücktheit auch über dieses Haus gelegt. Jedes Wort, das nicht über den Toten geredet wurde, hatte einen Beiklang des Ungesagten, jedes Lachen, das sich zu erschallen traute, einen Nachhall des bewussten Trotzes. So wurde den dreien das Nachtmahl so bald wie ihre Unterhaltung schal im Mund. Und man löschte ungewohnt früh das Licht in der Stube und begab sich auf die Kammern.
Doch Greider bettete sich nicht zur Nachtruhe. Er rückte die Staffelei mit der leeren Leinwand in die Mitte des Raumes, stellte den Stuhl davor und auf den Tisch daneben die Lampe, deren Schein er so weit aufdrehte, wie der Docht erlaubte. Dann teilte er mit einer Zeichenkohle das weiße Rechteck zügig in eine Anzahl kleinerer Flächen und begann, in eine davon nahe dem linken Bildrand die Umrisse einer menschlichen Figur zu skizzieren. Als dies geschehen war, holte er aus einem seiner Koffer eine Palette und einen Kasten mit Farbtuben und Pinseln hervor. Schnell war um die Figur ein schwarzer Hintergrund gemalt, und in kaum einer Viertelstunde mehr hatte die stehende Gestalt ein dunkles Gewand angezogen bekommen, das ohne feine Einzelheiten flächig durch nur wenige Farben, Schatten und Konturen ausgeführt war.
Dann aber wurden die Töne auf der Palette zahlreicher, die Pinsel feiner und ihre Striche sorgfältiger, die Pausen länger, in denen diese Striche kritisch begutachtet und die nächsten geplant wurden. Denn nun ging es daran, der Gestalt ein Gesicht zu geben. Mit seinem Zeichenblock als Vorlage, ließ Greider in dem Kreis von weißer Leinwand, den er in demschwarzen Hintergrund frei
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