Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
Kutscher kurz aufgeschluchzt, denn er hatte den Mann seit Jahren gekannt. Ein mit Absicht qualmendes Feuer im Kamin sollte nach Möglichkeit vertreiben, was durch die weit aufgerissenen Fenster und Türen von dem süßlichen Verwesungsgeruch noch nicht entkommen war.
Vor dem Kamin kauerte der Junge und fütterte das Lodern sorgfältig mit halb feuchtem Holz. Die Frau und Holden saßen neben einem der Fenster am Tisch; draußen konnten sie sehen, wie der Marshal und der Kutscher provisorische Gräber aushoben für die daneben auf dem Wüstenboden liegenden Toten. Holden hatte sein silberbeschlagenes Gewehr in Griffweite neben der Bank an die Wand gelehnt – denn auchwenn eine Rückkehr der Banditen an den Ort ihrer Schreckenstat unwahrscheinlich war, wollte man sie nicht ganz ausschließen.
Beide hatten eine Weile geschwiegen, zu groß stand das, was sie gesehen hatten, noch zwischen ihnen. Dann aber blinzelten die immer wachen, dunklen Augen im weißen Schädel des Richters die Frau an, und mit seinem gestelzten Deutsch fragte er: »Noch immer wünschen Sie keine Waffe für Ihren Sohn?«
Die Frau erwiderte mit gerunzelter Stirn seinen Blick, als verstünde sie nicht, warum sich an ihrer Meinung zu diesem Thema irgendetwas geändert haben sollte. Holden nickte in Richtung auf die Leichen, die draußen vor dem Fenster im Staub ausgestreckt waren, und sagte: »Und wenn sein Ende ist wie ihres, weil er nicht sich verteidigen konnte?«
Die Frau wies ihrerseits auf die Stelle, wo zuvor der tote Bandit gelegen hatte, und meinte: »Sie hatten Waffen. Sie haben sich verteidigt. Viel geholfen hat es ihnen nicht.«
»Ah, aber vielleicht hatten sie nicht genug? Oder ihr Schießen war nicht gut genug?« Holden wirkte nicht, als würde er das wirklich glauben, aber ganz offensichtlich wollte er die Frau herausfordern.
»Aber vielleicht hätte man sie bloß ausgeraubt und nicht umgebracht, wenn sie nicht geschossen hätten«, erwiderte sie – doch sie schien von ihrem eigenen Gegenargument nicht wirklich überzeugt. Holden merkte genau, dass der Kern ihrer Haltung noch nicht getroffen war.
»Sie wollen nicht, dass er vorbereitet ist, im Fall des Zweifels?« bohrte er nach.
Die Frau überlegte eine Weile. Diesmal rang sie um eine ernst gemeinte Antwort. »Es ist nicht das Vorbereiten. Es ist das Suchen danach, wo man das Vorbereitete anbringen könnte.«
»Sie glauben, das Gewehr ist eine Krankheit? Es gibt einem das Fieber?« fragte der Richter höhnisch.
Noch einmal überlegte die Frau – und nickte dann. Es war eine seltsame Art, es auszudrücken, aber eine bessere mochte sie auch nicht finden.
»Sie sind ängstlich – Sie wollen das Leben nicht kennen, wie es ist?« probierte Holden es noch einmal anders, gab sich aber sogleich selbst die Antwort: »Nein, nein.« Er blickte ihr tief in die Augen, und es fröstelte die Frau. »Sie kennen es. Ihr Sohn,
er
soll es nicht kennen!«
Einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen.
»Und wenn einer der Toten Ihrer wäre, Sie wollten keine Rache?« setzte der Richter erneut an.
Die Frau dachte einmal mehr nach, suchte nach Worten, wie sie erklären konnte, dass sie der Gewalt misstraute und den Männern, die glaubten, sie beherrschen zu können. Aber sie fand die rechten Worte nicht, und sie hatte auch nicht das Gefühl, dass Holden daran wirklich interessiert war. Er würde sie ohnehin nur wieder zum Ziel seines Spotts machen.
»Ich will nicht, dass mein Sohn ein Gewehr hat«, wollte sie mit einem erklärungslosen Machtwort die Diskussion beenden und straffte ihren Körper.
Da ertönte von draußen ein Krachen, dann ein Kreischen.
Erschreckt schaute sie auf, sich um, hinaus. Ihr Junge war, offensichtlich gelangweilt, von dem Kamin und aus der Stube verschwunden – und mit ihm Holdens Büchse. Draußen waren Geier vom Himmel herabgetaucht und hatten sich auf den Leichen niedergelassen. Vom Schaufelfuchteln des Marshals und des Kutschers hatten sie sich nicht lang vertreiben lassen, waren schnell wieder zurückgehüpft zu dem, was ihr fauliges Nachtmahl werden sollte. In ein paar Schritt Entfernung aber stand nun der Junge, das Gewehr im Anschlag.Rauch ringelte aus der Mündung. Der erste Schuss war offenbar danebengegangen. Die Aasvögel schlugen mit den Flügeln, krächzten auf, pumpten ihre nackten Hälse, wollten sich dann aber wieder über ihre blutige Beute hermachen.
Der Junge legte erneut an, diesmal ruhiger, langsamer, und drückte ab. Der Kopf eines der
Weitere Kostenlose Bücher