Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
Vom Netzwerk:
könne man bereits gleichsam ihren Geruch wittern. Das hob die Stimmung unter den Reisenden wieder, obwohl die Strapazen der Passstraßen noch bevorstanden – denn man sah nun nicht mehr die Dauer der Anstrengung, sondern um wie viel näher sie einen dem Ziel gebracht hatte.
    Die Sonne hatte an einem dieser Tage schon länger den herabsinkenden Teil ihrer Bahn erreicht, als man eine Kutschenstationansteuerte. Das Gebäude lag im Schatten eines Felshügels, der nach Langem die erste Abwechslung zu der steinigen Ebene darstellte, aber nur Vorbote war für einige Erhebungen, die sich auf der Fortsetzung des Kutschpfads an ihn anschlossen. An Hotels war hier noch nicht zu denken, man musste froh sein, nicht unter freiem Himmel nächtigen zu müssen. Doch immerhin waren die Wände dieser Rastklause weißgrau verputzt und nicht aus rohen Baumstämmen gezimmert, und ihre an sich bescheidene Größe versprach doch wenigstens, dass sie unter ihrem flachen, mit Stroh und Teer gedeckten Dach Küche, Gaststube und Schlafsaal in getrennten Räumen beherbergen würde.
    Mit einer großen Staubwolke kam die Kutsche vor der Station zum Stehen. Erleichtert stiegen die Gäste aus dem Wagen, streckten und massierten ihre gebeutelten Glieder, gewöhnten ihre Ohren an die Stille, die ihnen nach Stunden der Fahrt plötzlich lauter vorkam als das schon gar nicht mehr wahrgenommene Donnern der Hufe und Rattern der Räder. Der Kutscher sprang vom Bock, um die erhitzten Pferde abzuspannen und zu tränken, sie abzureiben und ihnen dann in dem halb offenen Stall Futter und Ruheplatz zu verschaffen.
    Doch er stutzte: Er war es gewohnt, dass der Wirt und Wächter der Station ihn dazu helfend empfing. Die lärmende Ankunft des Gefährts musste der längst gehört haben – doch die Tür zur Klause rührte sich nicht, kein Geräusch, keine Bewegung ließ sich aus deren Innerem vernehmen.
    »Hey!« gellte der Kutscher, und wiederholte den Ruf noch einmal, auf den Anbau neben dem Haus gerichtet – falls der Wirt dort gerade seine Notdurft verrichten und deshalb verhindert sein sollte. Doch die einsame Antwort war das Klappern eines Fensterladens im aufkommenden Abend-wind. Die Fahrgäste bemerkten die besorgte Miene des Kutschersund gesellten sich zu ihm, fragten ihn, was los sei. Er wiegelte ab: Der Wirt sei wohl wieder selbst sein bester Kunde gewesen und schlafe einen besonders schweren Rausch aus. Doch ganz überzeugt war er von seinen Worten selber nicht. Gemeinsam begab sich deshalb die Gruppe zum Eingang des flachen Baus, lauschte noch einmal kurz auf Lebenszeichen, und dann klopfte der Kutscher mit dem Knauf seiner Peitsche drei Mal schwer gegen die Holztür. Deren Riegel war nicht im Schloss eingeschnappt gewesen, und sie öffnete sich beim letzten Streich knarzend von selbst.
    Die Ankömmlinge wichen zurück wie von einer unsichtbaren Hand gestoßen, und der Kutscher, der als Vorderster eine halbe Lunge voll des ihnen aus dem Raum entgegenquellenden Gestanks eingeatmet hatte, drehte sich würgend zur Seite. Nun endlich war ein Geräusch zu hören aus dem Haus: ein zorniges, urplötzlich aufbrandendes Summen. Es waren die Fliegen, die von dem eindringenden Licht aufgeschreckt wurden. Wie ein verrottendes Wolltuch, das sich durch einen Lufthauch in staubige Wölkchen auflöst, stiegen sie auf und gaben den Blick frei auf das, was sie bedeckt hatten.
    Der Marshal – sobald er begriff, was er sah – versuchte, die Frau und ihren Sohn zur Seite zu drängen, dass ihnen der Anblick erspart bliebe. Doch der Frau hatte der Geruch bereits alles gesagt, und sie war keine, die die Augen verschließen musste vor den grausamen Seiten des Lebens. Der Junge aber war zu alt, um nicht genau auf jene Dinge am neugierigsten zu sein, die man ihm vorenthalten wollte.
    So betraten sie dann – Tücher vor die Nasen gepresst – alle zusammen die Stube, der Kutscher und der Marshal stießen die Fenster auf, und sie betrachteten das Grauen. Vier Leichen lagen verteilt in dem Schankraum. Ein Mann war über dem einzigen Tisch zusammengesackt, auf dem sich eine schwarz gewordene Blutlache ausgebreitet hatte. Einenanderen musste die Wucht einer Kugel mitsamt seines Stuhls umgeworfen haben, denn er lag, noch in sitzender Position, neben dem Tisch auf dem Rücken. Einen Mann hatte es gegen die Wand links von der Eingangstür geschleudert, er war daran hinabgeglitten und saß nun wie ein bewusstlos Besoffener dort am Boden. In der hintersten Ecke jedoch, neben dem

Weitere Kostenlose Bücher