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Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
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welche allein wirklich etwas zu rühren schien in Greider, war jene von Lukas’ Mutter. Die schwache, kranke Frau, die den ganzen Abend über in Decken gehüllt auf der Bank gesessen und sich mit keinen drei Sätzen am erregten Gespräch beteiligt hatte, winkte den Fremden zu sich, als dieser eben die Stube verlassen wollte. Alle schauten etwas verblüfft, machten aber Greider den Weg zu ihr frei. Sie kramte ihre beiden dünnen Arme unter den Decken hervor und streckte ihm die rechte Hand entgegen. Greider nahm sie, vorsichtig, denn sie sah aus wie mit Pergament überzogene Vogelknochen und fühlte sich tatsächlich klamm an, wie etwas, das kaum mehr lebte. Doch es war eine erstaunlich zähe Kraft in dieser Hand, und Greider erschrak fast, als sie sich krallend um seine drückte. Mit der Linken aber fasste die Frau Greider am Ärmel und zog ihn zu sich herab. Greider beugte sich, bis er ihr direkt ins Gesicht schauen konnte, das gelb ledrig war, nur an manchen Flecken durchzogen von Äderchen mit dem lilanen Schimmer gestockten Blutes. Die Augen waren gallertüberzogeneMurmeln, in deren blickloser Beweglichkeit ein letzter Funke von Willen gegen die Erstickung kämpfte. Der Mund öffnete und schloss sich tonlos. Greider glaubte schon, die Frau hätte nicht mehr den Verstand oder die Kraft zu sprechen. Aber er war ihr offenbar nur noch nicht nah genug. Ihre Hand krabbelte sich hoch bis zu seinem Nacken und zog ihn heran, bis sein Ohr direkt an ihrem Mund lag und kein anderer hören konnte, was sie ihm in einem dringlichen, zittrigen Atemstoß hineinsprach.
    Es war nur ein einfaches Wort. »Danke.«
    Aber nachdem sie es gesagt hatte, ließ ihre Hand Greiders Kopf sich nur ein kleines Stück weit wieder aufrichten. Und ihre blinden Augen ruckten in einer verzweifelten Suche umher nach einem Zeichen in seinem Gesicht, ob er verstanden hatte, was ihr, einer Frau, einer Mutter dieses Tals, dieses eine Wort alles bedeutete.
    Wenig später saß Greider auf seinem Maultier und ritt zum Hof hinaus, in dessen Tür Lukas, Luzi und die Gaderin standen und ihm Auf Wiedersehen winkten. Der Schnee wirbelte jetzt in verklumpten Flocken herab, der Himmel war nicht einmal mehr zu erahnen. Greider hatte das Gatter des Guts kaum ein paar Meter hinter sich gelassen, da war das Gebäude schon ganz verschluckt.
    So konnten die anderen auch nicht mehr erkennen, in welche Richtung er sein Tier lenkte. Sie mussten annehmen, dass er wieder ins Innere des Tals zurückreiten würde. Denn erklärtermaßen war ja der Hof des Brenner sein Ziel. Doch zuvor hatte er noch eine letzte andere Sache zu erledigen. Er trabte auf das Dorf zu.
    Der Krämer und seine Frau waren unter den Letzten, die das Hochzeitsfest verlassen hatten. Sie ließen es sich gerne schmecken, wenn andere die Zeche zahlten, und sie – die bereitsals verheiratetes Paar ins Tal gekommen und kinderlos geblieben waren – gehörten auch zu jenen wenigen, für die eine solche Feier keinen unguten Beigeschmack von verdrängten Erinnerungen oder bangen Erwartungen hatte.
    Sie hatten kräftig gegessen und getrunken und derb und laut gelacht, und wenn sie den Schmerz des Brautpaars überhaupt wahrgenommen hatten, dann nur als Gegenstand für mitleidlose, anzügliche Witze. Sie waren erhitzt vom Trank und der Geselligkeit heimgekehrt – der Winter hatte es mit all seinem Frost auf dem kurzen Weg kaum geschafft, ihre glühenden Schädel auf ein gesünderes Maß abzukühlen. So waren sie in ihre Schlafkammer getaumelt und hatten ihre Feiertagskleidung – nicht ohne Mühe, denn der Alkohol schien Ärmel und Beine auf wundersame Weise widerspenstig gemacht zu haben – gegen die Nachthemden getauscht. Der Mann schimpfte seine Frau, dass sie nicht wie er noch draußen in den Schnee gebrunzt hatte und man nun mit einem vollen Nachttopf in der Kammer würde schlafen müssen. Aber es war ein scherzhaftes, fast liebevolles Schimpfen. Denn noch war nicht ausgemacht, ob das Bier, das Lachen und die Hitze sie beide wirklich so müde gemacht hatten, dass aus der Angeregtheit nicht noch ein anderer, in ihrer alten Ehe selten gewordener Nutzen zu ziehen war.
    Sie hatten sich gerade auf die Bettkante gesetzt, oder vielmehr plumpsen lassen, da hörten sie unten an der Ladentür ein schepperndes Klopfen. Verdutzt schauten sie einander an. Die Vorstellung, dass an diesem Tag, zu dieser Zeit noch jemand etwas von ihnen wollte, erschien ihnen so abwegig, dass sie nur mit den Schultern zuckten und

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