Das Flammende Kreuz
fasste es immer noch nicht. Es war schon lange her, und doch erwachte ich dann und wann des Nachts und spürte das warme, schlafende Gewicht eines Kindes auf meiner Brust, seinen warmen Atem an meinem Hals. Ich hob die Hand und berührte meine Schulter, die sich vorgeschoben hatte, als läge der Kopf des Kindes dort.
Ich nahm an, dass es einfacher war, eine Tochter bei der Geburt zu verlieren, ohne dass das Fehlen ihrer jahrelangen Gesellschaft löchrige Fetzen in das Gewebe des Alltags reißen konnte. Und doch kannte ich Faith bis ins letzte Atom ihres Wesens; mein Herz hatte ein Loch, das genau ihre Form hatte. Vielleicht half es ja, dass sie zumindest eines natürlichen Todes gestorben war; dies gab mir das Gefühl, dass sie nach wie vor irgendwie bei mir war, dass sie gut versorgt und nicht allein war. Doch seine Kinder im Krieg durch blutiges Gemetzel zu verlieren?
In dieser Zeit konnte Kindern so viel zustoßen. Aufgewühlt machte ich mich wieder an meine Lektüre der Fallgeschichte.
Keine Anzeichen einer organischen Erkrankung, keine äußerlichen Beschädigungen der Augen. Das Weiße der Augen ist klar, die Wimpern frei von jeder Ablagerung, kein Tumor zu sehen. Die Pupillen reagieren normal, wenn man eine Lichtquelle daran vorbeiführt oder dieselbe verdunkelt. Wenn man eine Kerze dicht an die Seite hält, heleuchtet sie den glasigen Zustand des Auges, zeigt jedoch keinen Defekt in seinem Inneren. Mir fällt eine leichte Schlierenhildung auf die auf einen drohenden Grauen Star im linken Auge hinweist, doch dies reicht nicht aus, um den allmählichen verlust des Augenlichtes zu erklären .
»Hmm«, sagte ich laut. Sowohl Rawlings’ Beobachtungen als auch seine Schlussfolgerungen stimmten mit den meinen überein. Im Vorübergehen erwähnte er den Zeitraum, über den sich die Verschlechterung von Jocastas Sehvermögen hingezogen hatte - ungefähr zwei Jahre-und das Voranschreiten der Verschlechterung - nichts Abruptes, sondern eine graduelle Verkleinerung des Blickfeldes.
Ich hielt es für wahrscheinlicher, dass es länger gedauert hatte; manchmal fand der Verlust so allmählich statt, dass die Leute die kleinen Verschlechterungen gar nicht bemerkten, bis dann ihr Augenlicht ernsthaft bedroht war.
... Teile der peripheren Vision gingen verloren wie abgehobelter Käse. Auch kann die Patientin das geringe, verbliebene Sehvermögen nur bei gedämpftem Licht nutzen, da das Auge stark gereizt und schmerzempfindlich reagiert, wenn es grellem Sonnenlicht ausgesetzt wird .
Ich habe dieses Krankheitsbild bereits zweimal gesehen, jeweils bei älteren Menschen, jedoch nicht so weit fortgeschritten. Habe meine Meinung geäußert, dass das Sehvermögen bald vollständig ausgelöscht sein wird und dann keine Verschlechterung mehr möglich ist. Glücklicherweise hat Mr. Cameron einen schwarzen Bediensteten, der lesen kann und den er seiner Frau als Begleiter überlassen hat, damit er sie vor Hindernissen warnt, ihr vorliest und ihr ihre Umgebung beschreibt .
Inzwischen war es weiter fortgeschritten, und Jocasta war vollkommen blind. Also war es eine allmählich fortschreitende Erkrankung - das sagte mir nicht viel, denn es galt für die meisten Augenerkrankungen. Wann hatte Rawlings sie gesehen?
Es kam eine ganze Reihe von Krankheitsbildern in Frage: Netzhautdegeneration, ein Tumor des Sehnervs, Parasitenbefall, Retinitis Pigmentosa, eine Entzündung der Schläfenarterie - wahrscheinlich keine Netzhautablösung, diese wäre abrupt geschehen -, doch mein persönlicher Verdacht lautete auf Glaukom. Ich konnte mich erinnern, wie Phaedre, Jocastas Leibdienerin, einmal Tücher in kaltem Tee ausgewrungen und angemerkt hatte, dass ihre Herrin » schon wieder « Kopfschmerzen habe, in einem Tonfall, der auf ein häufiges Vorkommen schließen ließ - und dass Duncan mich gebeten hatte, ihr ein Lavendelkissen zu machen, um das »Megrimmen« seiner Frau zu lindern.
Möglich jedoch, dass Jocastas Kopfschmerzen nichts mit ihrem Augenlicht zu tun hatten - ich hatte mich damals nicht nach der Natur der Kopfschmerzen erkundigt; es konnte ja sein, dass es schlichte Anspannungsschmerzen oder Migräneanfälle waren, nicht die Druckschmerzen, die manchmal Begleiterscheinungen eines Glaukoms waren - manchmal auch nicht. Schließlich verursachten auch Arterienentzündungen häufig Kopfschmerzen. Das Frustrierende daran war, dass das Glaukom selbst absolut keine vorhersehbaren Symptome hatte - außer der schließlich
Weitere Kostenlose Bücher