Das Flüstern der Nacht
andere auch.«
»Du bist aber nicht wie alle anderen Menschen, Leesha«, beharrte Rojer. »Noch vor einem Jahr konntest du keine Fensterbank mit Siegeln versehen, und jetzt nimmt sogar der Tätowierte Mann Unterricht bei dir.«
Leesha schnaubte. »Wohl kaum.«
»Gib’s doch zu. Ständig hast du an seinen Siegeln etwas zu verbessern, darüber streitet ihr euch doch die ganze Zeit.«
»Arlen ist trotzdem ein dreimal besserer Bannzeichner als ich«, entgegnete Leesha. »Es ist nur … es lässt sich schwer beschreiben, aber nachdem ich so viele Siegel angesehen hatte, fingen die Muster auf einmal an … zu mir zu sprechen. Wenn ich ein neues Siegel lerne, muss ich mir bloß die Energielinien ansehen und kann dann meistens schon erraten, welchem Zweck es dient. Manchmal gelingt es mir sogar, die Linien zu ändern, um eine andere Wirkung
zu erzielen. Ich habe versucht, das auch anderen beizubringen, aber anscheinend klappt es nicht so richtig.«
»Genauso geht es mir mit dem Fiedeln«, gab Rojer zu. »Die Musik spricht zu mir. Ich kann meine Schüler unterrichten, so dass sie ganz passabel Lieder spielen, aber man spielt nicht Die Schlacht im Tal der Holzfäller , um die Horclinge zu beschwichtigen. Man muss ihre Stimmung … beeinflussen.«
»Ich wünschte, jemand könnte die Stimmung meiner Mutter beeinflussen«, brummelte Leesha.
»Das wurde auch höchste Zeit«, erwiderte Rojer.
»Was?«, fragte Leesha.
»Gleich sind wir in der Stadt«, erläuterte Rojer. »Je eher wir über deine Mam sprechen, umso schneller haben wir es hinter uns und können uns wieder unseren eigentlichen Pflichten zuwenden.«
Abrupt blieb Leesha stehen und sah ihn an. »Was würde ich nur ohne dich tun, Rojer? Du bist der beste Freund, den ich auf der Welt habe.« Sie legte gerade die richtige Betonung auf das Wort »Freund«.
Rojer machte ein paar linkische Gesten und stapfte weiter. »Ich weiß, warum sie dich immer in Rage bringt. Sie trifft exakt deinen wunden Punkt.«
Leesha eilte ihm hinterher. »Ich wehre mich gegen die Vorstellung, meine Mam könnte auch nur ein einziges Mal Recht haben …«
»Dabei hat sie sogar ziemlich häufig Recht. Sie betrachtet die Welt sachlich und nüchtern.«
»›Kaltherzig‹ und ›gefühllos‹ würde ihre Sicht der Dinge wohl besser beschreiben«, gab Leesha zurück.
Rojer zuckte die Achseln. »In einem Hut das Kaninchen, im anderen der Hase.«
Leesha streckte lässig eine behandschuhte Hand aus, um Schnee von einem niedrig hängenden Ast abzustreifen, aber Rojer bemerkte es und wich geschickt dem Schneeball aus, den sie auf ihn
pfefferte. Stattdessen traf er einen Baumdämon, der sich wild nach seinem Angreifer umsah.
»Du wünschst dir Kinder«, sagte Rojer rundheraus.
»Natürlich wünsche ich mir welche«, räumte sie ein. »Ich wollte immer Kinder haben. Nur war bis jetzt noch nie der richtige Zeitpunkt gekommen.«
»Der richtige Zeitpunkt oder der richtige Vater?«, hakte Rojer nach.
Leesha blies den Atem aus. »Beides. Aber ich bin erst achtundzwanzig. Mit der Unterstützung von Kräutern kann ich vermutlich noch zwanzig Jahre lang ein Kind empfangen und austragen, es wäre nur nicht so leicht wie vor zehn oder auch noch vor fünf Jahren. Hätte ich Gared geheiratet, wäre unser erstes Kind jetzt vielleicht vierzehn, und danach hätten wir sicher noch mehr Nachwuchs gehabt.«
»Arrick pflegte zu sagen: Es bringt nichts, wenn man Dingen nachtrauert, die nie gewesen sind«, erwiderte Roger. »Allerdings war er das beste Beispiel dafür, wie schwer es sein kann, diesen Ratschlag zu befolgen.«
Leesha seufzte, legte eine Hand auf ihren Bauch und stellte sich den darin liegenden Schoß vor. Sie bedauerte es keineswegs, Gared abgewiesen zu haben. Ihre Mutter hatte richtig getippt, als sie Mutmaßungen darüber anstellte, was die Banditen ihr auf der Straße angetan hatten, wie Rojer sehr wohl wusste. Aber weder ihm noch jemand anders hatte sie erzählt, dass gerade ihre fruchtbare Zeit gewesen war, als es passierte, und sie befürchten musste, aus dieser Schändung könnte ein Kind entstehen.
Leesha hatte gehofft, Arlen würde seinen Samen in sie ergießen, als sie ihn einige Tage später verführte. Wäre es dazu gekommen, hätte sie das Kind - sofern eines in ihr herangereift wäre - in der Hoffnung großgezogen, es sei durch Zärtlichkeit entstanden und nicht durch einen Akt abscheulichster Gewalt. Aber der Tätowierte Mann hatte sich geweigert und geschworen, keine Kinder
in
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