Das Flüstern der Nacht
…«
»Das ist doch absurd!«, schrie Rojer, während Erny rot anlief. »Leesha würde niemals …!«
Mit einem unfeinen Schnauben schnitt Elona ihm das Wort ab. »Nun ja, mit dir lässt sie sich ganz bestimmt nicht ein. Es ist klar wie der helllichte Tag, dass du in sie verknallt bist, aber du bist ihr nicht gut genug, Fiedlerjunge, und das weißt du ganz genau!« Rojers Gesicht sah aus wie mit Blut übergossen. Er klappte den Mund auf, aber kein Laut kam heraus.
»Du hast kein Recht, so mit ihm zu sprechen, Mutter!«, regte Leesha sich auf. »Du hast ja keine Ahnung …«
»Ewig reibst du mir unter die Nase, dass ich von nichts eine Ahnung habe!«, schnauzte Elona. »Als ob deine arme Mutter zu einfältig wäre, um die Sonne zu sehen, die ihr ins Gesicht scheint!« Sie kippte ihren Wein hinunter, und in ihre Miene trat der grausame Zug, den Leesha nur zu gut kannte und fürchtete.
»Aber ich kenne die Ballade des Jungen, in der er erzählt, wie der Tätowierte Mann euch fand, nachdem die Banditen euch halbtot auf der Straße liegen ließen. Und ich weiß, wie Männer Frauen wie uns behandeln, wenn keiner da ist, der sie daran hindert!«
»Mutter!«, warnte Leesha, und ihr Ton verschärfte sich.
»Ich hätte dir nicht gewünscht, dass du auf solche Weise deine Unschuld verlierst«, knurrte Elona, »trotzdem war es höchste Zeit, dass es passierte, und ich denke, es hat dir ganz gutgetan.«
Leesha schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und funkelte ihre Mutter zornig an. »Hol deinen Umhang, Rojer!«, befahl sie. »Es wird bald dunkel, und draußen bei den Dämonen sind wir sicherer als hier.« Sie stopfte die Bücher mit den leeren Seiten in ihre Tasche und hängte sie sich über die Schulter. Dann riss sie ihren aufwendig bestickten Umhang von dem Haken neben der Tür, hüllte sich darin ein und verschloss ihn am Hals mit einer silbernen Siegelspange.
Erny ging zu ihr, die Hände in einer beschwichtigenden Geste gespreizt. Leesha umarmte ihn, während Rojer seinen Umhang anlegte. Elona blieb am Tisch sitzen und schlürfte Wein.
»Es gefällt mir ganz und gar nicht, dass du nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumläufst, selbst wenn du diesen magischen Umhang trägst«, erklärte Erny. »Du bist unersetzlich.«
»Rojer hat seine Fiedel dabei«, beruhigte Leesha ihren Vater, »und außerdem verlasse ich mich nicht nur auf die Tarnsiegel. Sollte uns ein Horcling entdecken, kann ich ihn abwehren. Sei unbesorgt, uns wird schon nichts zustoßen.«
»Du bist imstande, den ganzen Horc zu verhexen, nur einen ganz gewöhnlichen Mann kannst du nicht verzaubern«, höhnte Elona.
Leesha beachtete sie nicht, sondern zog ihre Kapuze über den Kopf und trat hinaus in die Abenddämmerung.
»Glaubst du mir jetzt?«, wandte sie sich an Rojer, nachdem die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte.
»Mir scheint, ich schulde dir eine Milneser Sonne«, gab Rojer zu.
Der Schnee knirschte unter Leeshas Stiefeln, als sie und Rojer Richtung Ortskern gingen. Ihr Atem gefror in der eisigen Winterluft, aber ihre Umhänge waren mit Pelz gefüttert und hielten sie einigermaßen warm.
Seit Elonas Entgleisung hatte Rojer kaum etwas gesagt. Er hielt den Kopf gesenkt, und sein Gesicht war hinter den langen roten Locken verborgen. Den Kasten mit der Fiedel trug er unter seinem bunt gescheckten Umhang, aber an der Art, wie er seine Finger durchbog, erkannte Leesha, dass er sich danach sehnte, das Instrument in den Händen zu halten. Wenn er innerlich aufgewühlt war, spielte er immer auf der Fiedel.
Leesha wusste, dass Rojer in sie verliebt war. Im Grunde war es ein offenes Geheimnis, fast jeder wusste Bescheid. Die Hälfte der Frauen in der Stadt hielten sie für verrückt, weil sie nicht zugriff. Eigentlich sprach auch nichts dagegen. Rojer hatte ein hübsches, jungenhaftes Gesicht und war sehr klug. Seine Musik war unbeschreiblich schön, und er konnte Leesha selbst dann noch zum Lachen bringen, wenn sie am Boden zerstört war. Mehr als einmal hatte er bewiesen, dass er notfalls für sie sterben würde.
Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich Rojer einfach nicht als ihren Liebhaber vorstellen. Er hatte kaum achtzehn
Winter gesehen, war demnach gute zehn Jahre jünger als sie, und er war ihr Freund. In vielerlei Hinsicht war Rojer ihr einziger Freund. Der einzige Mensch, dem sie bedingungslos vertraute. Er war der kleine Bruder, den sie niemals gehabt hatte. Sie wollte ihn nicht verletzen.
»Neulich war
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