Das Flüstern der Nacht
an, dich nachzuahmen«, erzählte Leesha. »Jona malt bereits mit Holzkohlestöckchen Siegel auf Menschen.«
»Er wird damit aufhören, wenn ich es ihm sage«, behauptete der Tätowierte Mann.
»Aber nur, weil er dich für den Erlöser hält«, warf Rojer ein und zuckte zusammen, als der Tätowierte Mann ihn zornig anfunkelte.
»Das spielt keine Rolle«, meinte Leesha. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Geschichten, die man über dich verbreitet, einen Tätowierer ins Tal locken, und dann gibt es kein Halten mehr. Ich finde, es ist besser, wenn wir sofort mit unseren Experimenten anfangen, unter kontrollierten Bedingungen.«
»Bitte«, beschwor der Tätowierte Mann sie erneut. »Belade nicht noch andere Menschen mit meinem Fluch.«
Leesha betrachtete ihn mit sachlicher Miene. »Du bist nicht verflucht.«
»Was macht dich so sicher?«, gab er zurück. Er wandte sich an Rojer. »Hast du eines deiner Wurfmesser dabei?«
Ein kurzer Schlenker aus dem Handgelenk, und Rojer hielt ein Messer zwischen den Fingern. Geschickt drehte er es um und wollte es mit dem Griff voran dem Tätowierten Mann geben, doch der schüttelte ablehnend den Kopf. Er stand auf und entfernte sich ein paar Schritte vom Tisch. »Wirf das Messer auf mich.«
»Was?!«, hauchte Rojer.
»Das Messer«, wiederholte der Tätowierte Mann. »Schleudere es auf mich. Ziel direkt auf das Herz.«
Rojer schüttelte verstört den Kopf. »Nein.«
»Du wirfst doch dauernd mit Messern nach Leuten!«
»Sicher, wenn ich eine Vorstellung gebe. Und es ist ein Trick dabei. Ich denke nicht daran, mit einem Messer auf dein Herz zu zielen, hast du den Verstand verloren? Selbst wenn du glaubst, du könntest mit deiner dämonischen Schnelligkeit im letzten Moment ausweichen..«
Der Tätowierte Mann seufzte und richtete das Wort an Leesha. »Dann tu du es. Wirf etwas nach mir, egal, was …«
Er kam nicht einmal dazu, den Satz zu beenden, da riss Leesha auch schon eine Bratpfanne von einem Haken neben der Feuerstelle und schleuderte sie mit voller Wucht in seine Richtung.
Aber die Bratpfanne verfehlte ihr Ziel. Der Tätowierte Mann verwandelte sich in einen Nebel, durch den das eiserne Kochgerät
hindurchschoss als durchdringe es eine Rauchfahne. Die Pfanne traf mit lautem Geschepper die Wand und fiel klirrend zu Boden. Leesha schnappte erschrocken nach Luft und Rojer sackte vor schierer Verblüffung die Kinnlade herunter.
Es dauerte mehrere Sekunden, bis der Nebelschwaden sich wieder verdichtete und der Körper des Tätowierten Mannes eine feste Gestalt annahm.
»Ich habe das geübt«, erklärte er trocken. »Das Auflösen geht ganz leicht. Es ist, als würde man seine Moleküle voneinander trennen und sie ausstreuen, so wie sich Wasser, wenn es kocht, in Dampf verwandelt. Draußen bei Sonnenschein klappt es nicht, aber nachts kann ich diesen Zustand nach Belieben herbeiführen. Aber wenn ich mich dann wieder verfestigen will, muss ich mich schon etwas mehr anstrengen. Manchmal kriege ich Angst, ich dünne meine Moleküle zu sehr aus und könnte … einfach vom Wind davongeweht werden.«
»Das klingt ja entsetzlich!«, stöhnte Rojer.
Der Tätowierte Mann nickte. »Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Wenn ich meinen Körper auflöse, kann ich fühlen, wie der Horc nach mir ruft. Und kurz vor der Morgendämmerung wird der Sog, der an mir zerrt … sehr hartnäckig.«
»So ähnlich wie an jenem Tag, als wir auf der Straße unterwegs waren? Da passierte es doch auch in der Morgendämmerung«, warf Leesha ein.
»Von welchem Tag sprichst du?«, wollte Rojer wissen; aber Leesha hörte ihn kaum, sondern durchlebte in Gedanken diesen entsetzlichen Morgen noch einmal.
Drei Tage nach dem Überfall auf der Straße waren Leeshas körperliche Verletzungen verheilt, doch ihre Verzweiflung war nicht
geringer geworden. Sie quälte die Angst, in ihrem Schoß könnte ein Kind heranwachsen. Bruna hatte sie gelehrt, einen Tee zu brauen, der den Samen eines Mannes ausschwemmte, bevor er sich im Leib einer Frau einnisten konnte.
»Warum sollte ich jemals ein so übles Gebräu kochen?«, hatte Leesha ihre Mentorin damals gefragt. »Es gibt ohnehin viel zu wenig Kinder auf der Welt.«
Bruna hatte sie traurig angesehen. »Mein Kind, ich hoffe, du wirst niemals selbst erleben, dass auch dieser Tee mitunter von Nutzen sein kann.«
Nachdem die Banditen sie vergewaltigt hatten, verstand Leesha, was Bruna meinte. Wäre sie noch im Besitz ihres Kräuterbeutels gewesen,
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