Das Flüstern der Nacht
hätte sie den Tee aufgebrüht, gleich nachdem sie ihren Körper gewaschen hatte, doch selbst ihre Arzneimittel hatten die Verbrecher ihr geraubt. Die Entscheidung war ihr aus der Hand genommen. Wenn sie ihr heimatliches Tal erreichte, würde es für den Tee zu spät sein.
Doch als sie dann ihren Kräuterbeutel zurückerhielt, lag die Entscheidung wieder bei ihr. Die einzige Zutat, die ihr für den Aufguss noch fehlte, war Bitterkraut, und diese Pflanze hatte sie an der Straße gesehen, als sie sich in eine Höhle flüchteten, um Schutz vor dem Regen zu suchen.
Da sie ohnehin keine Ruhe fand, war sie im Morgengrauen aufgestanden, während Rojer und der Tätowierte Mann tief und fest schliefen, und huschte nach draußen, um ein paar Stängel Bitterkraut abzuschneiden. Selbst in diesem Moment hätte sie nicht mit Gewissheit sagen können, ob sie es über sich brächte, den Tee tatsächlich zu trinken, obwohl sie vorhatte, ihn für alle Fälle aufzubrühen.
Der Tätowierte Mann war ihr gefolgt und hatte sie durch sein unverhofftes Auftauchen erschreckt. Sie zwang sich zu lächeln und sich mit ihm zu unterhalten, indem sie wild über Pflanzen und Dämonen plapperte, um von ihrem eigentlichen Vorhaben
abzulenken. Die ganze Zeit über hatte sie keinen klaren Gedanken fassen können.
Aber dann hatte sie ihn unabsichtlich gekränkt, und der schmerzliche Ausdruck in seinen Augen riss sie aus ihrem inneren Tumult. Plötzlich sah sie den Mann, der er einmal gewesen war. Ein anständiger, guter Mensch, dem man schreckliche Dinge angetan hatte, so wie ihr auch; doch er hatte sein Leid angenommen, den Kummer umarmt wie eine geliebte Person, anstatt mit seinem Schicksal zu hadern.
Sie konnte nachempfinden, was in ihm vorgehen musste, denn auch sie schleppte ein grausames Los mit sich herum; all ihre konfusen, wirbelnden Gedanken fügten sich unvermittelt in eine Ordnung, griffen ineinander wie die Zahnräder eines Uhrwerks, und sie wusste, was sie zu tun hatte.
Wenige Minuten später lagen sie und Arlen zusammen auf dem schlammigen Boden und liebten sich mit einer Inbrunst, die einem Schrei nach Hilfe glich. Aber der leidenschaftliche Akt fand ein abruptes Ende, als ein Baumdämon sie angriff. Der zärtliche Liebhaber verwandelte sich wieder in den Tätowierten Mann, der wie ein Besessener mit dem Horcling kämpfte. Und als dann die Sonne aufging, fingen beide an, sich aufzulösen - Mensch und Dämon. Von Grauen gepackt hatte sie zugesehen, wie sie langsam im Boden versanken.
Nach einer Weile stieg der Nebel wieder an die Oberfläche, die Körper nahmen feste Gestalt an, und der Dämon wurde von der Sonne verbrannt. Leesha hatte Arlen in die Arme nehmen wollen, aber der Tätowierte Mann wies sie ab, und dafür hatte sie ihn verwünscht. Sie war so mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt gewesen, dass sie kaum einen Gedanken daran verschwendet hatte, was er in diesem Moment durchmachen musste.
Kopfschüttelnd riss sich Leesha aus ihren Grübeleien.
»Es tut mir ja so leid«, erklärte sie dem Tätowierten Mann.
Er winkte lässig ab. »Du bist nicht für meine Entscheidungen verantwortlich.«
Rojer schaute zu Leesha, dann sah er den Tätowierten Mann an und schaute wieder zu Leesha zurück. »Beim Schöpfer, deine Mam hat also doch Recht gehabt«, begriff er. Leesha wusste, dass ihn diese Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht traf, aber daran konnte sie nichts ändern. In gewisser Weise war sie sogar froh, dass er nun Bescheid wusste.
»Es kann nicht nur an den Tätowierungen liegen«, mutmaßte sie, um sich wieder dem eigentlichen Thema zuzuwenden. »Das ergäbe keinen Sinn.« Nachdenklich betrachtete sie den Tätowierten Mann. »Ich will deine Grimoires. Die komplette Sammlung. Alles, was ich von dir lerne, ist durch deine Sichtweise und dein Verständnis der Dinge geprägt. Ich brauche das Quellenmaterial, wenn ich herausfinden will, was genau der Grund für diese Symptome ist.«
»Meine Grimoires sind nicht hier.«
»Dann holen wir sie«, schlug Leesha vor. »Wo bewahrst du sie auf?«
»Der nächste Ort, an dem ich welche deponiert habe, ist Angiers. Dann verwahre ich welche in Lakton, und ein Versteck habe ich in der krasianischen Wüste angelegt.«
»Angiers passt mir hervorragend«, freute sich Leesha. »Ich habe noch ein paar Angelegenheiten bei Meisterin Jizell zu erledigen, und wenn wir schon mal da sind, kannst du vielleicht den Herzog davon überzeugen, dass du nicht hinter seiner Krone her
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