Das Flüstern der Nacht
Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, doch Leesha durchschaute ihn und erkannte die Verzweiflung, die sich hinter seiner Empörung verbarg.
»Komm mit in mein Arbeitszimmer«, befahl sie und griff nach seinem Arm. Rojer riss sich von ihr los, aber er folgte Leesha in den Raum, wo sie ihm ein Glas hochprozentigen Alkohol einschenkte, der eher zum Desinfizieren als zum Trinken geeignet war.
»Es tut mir leid«, erklärte sie. »Ich bin zu weit gegangen.«
Rojer schien einem Zusammenbruch nahe zu sein; er ließ sich auf einen Stuhl sacken und trank das Glas in einem Zug leer. »Nein, das bist du nicht«, widersprach er. »Ich bin ein Angeber, ein Hochstapler und ein Schwindler.«
»Blödsinn!«, fuhr Leesha ihn an. »Jetzt übertreib mal nicht. Wir alle machen Fehler.«
»Es sind aber nicht Irrtümer , die mir unterlaufen«, haderte Rojer mit sich. »Wenn etwas schiefging, dann nur deshalb, weil ich gelogen
habe. Ich habe geschwindelt, als ich behauptete, ich könnte Leuten beibringen, wie man Dämonen durch Musik bändigt. In Wirklichkeit weiß ich ja nicht einmal, wie ich es selbst anstelle. Genauso wie ich dich letztes Jahr getäuscht habe, als ich hoch und heilig geschworen habe, ich könnte dich sicher von Angiers hierherbringen. Nachdem Arrick starb, bin ich über die Dörfer gezogen und habe mich mit Betrügereien durchgeschlagen, und nur durch eine List wurde ich überhaupt in die Jongleurgilde aufgenommen. Offenbar ist Lügen das Einzige, was ich gut kann.«
»Aber warum tust du es?«, fragte Leesha.
Rojer zuckte die Achseln. »Ich rede mir ein, wenn ich etwas vortäusche, dann entspricht es auch den Tatsachen. Und ich muss nur so tun, als sei ich genauso großartig wie du und der Tätowierte Mann, um mit euch auf ein und derselben Stufe zu stehen.«
Leesha machte keinen Hehl aus ihrer Verblüffung. »An mir ist überhaupt nichts Großartiges, Rojer. Das weißt du besser als jeder andere.«
Aber Rojer brach nur in hysterisches Gelächter aus. »Du merkst es nicht einmal!«, krächzte er. »Aus deiner Hütte kommen zahllose Waffen und Siegel, und mit einer Handbewegung heilst du die Verletzten und die Kranken. Ich kann nichts außer auf meiner Fiedel spielen, und selbst dann schaffe ich es nicht, ein Leben zu retten, wenn es drauf ankommt. Du und der Tätowierte Mann, ihr seid über euch selbst hinausgewachsen, ihr seid Helden. Ich hingegen verbringe Monate damit, meinen Schülern etwas beizubringen, und dann taugen sie doch nur dazu, um zum Ringelreihen aufzuspielen.«
»Du und deine Schüler haben einer Stadt, die von einer Katastrophe heimgesucht wurde, wieder Freude geschenkt. Das solltest du nicht zu gering einschätzen«, hielt Leesha ihm entgegen.
Roger seufzte. »Ich habe nichts getan, was ein Fässchen Bier nicht auch bewirken könnte.«
Leesha nahm seine Hände. »Das ist lächerlich. Die Magie, die du ausübst, ist ebenso stark wie die von Arlen oder mir. Die Tatsache, dass es dir so schwerfällt, sie anderen Menschen beizubringen, beweist doch nur, dass du über ein ganz besonderes Talent verfügst.«
Dann lachte sie ein bisschen, aber ohne Humor. »Außerdem kann ich noch so Großartiges leisten, da ist immer noch meine Mutter, die mich kleinmacht.«
Es schien kein Mond, und die Gegend, durch die Leesha und Rojer marschierten, fernab vom Schein des Großsiegels, war stockfinster. Leesha hielt einen großen Wanderstab in der Hand, an dessen Spitze eine Flasche mit hell strahlenden Chemikalien steckte, die ihren Weg beleuchtete. In die Flasche und in den Stab waren Tarnsiegel eingeritzt; die Horclinge konnten das Licht sehen, aber genauso wenig dessen Ursprung ausmachen, wie sie die beiden Menschen in ihren Tarnumhängen entdecken konnten.
»Ich begreife nicht, warum er uns nicht in der Stadt treffen wollte«, murrte Rojer. » Er spürt die Kälte vielleicht nicht, aber ich bin schon halb erfroren.«
»Gewisse Dinge bespricht man am besten, wenn man unter sich ist«, entgegnete Leesha. »Und wo immer er auftaucht, zieht er die Leute in Scharen an.«
Der Tätowierte Mann wartete auf dem durch Siegel geschützten Pfad auf sie, der zu Leeshas Hütte führte. Schattentänzer, sein gigantischer schwarzer Hengst, trug seine volle Panzerung und den Stirnriemen mit den beiden Hörnern; in der Dunkelheit war das Tier kaum zu sehen. Der Tätowierte Mann war lediglich mit einem Lendentuch bekleidet, sonst schützte nichts seine über und über mit Siegeln tätowierte Haut vor der eisigen
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