Das Flüstern der Nacht
mittlerweile hatte sich auf dem Hügel eine große Menschenmenge versammelt. Fast jeder in Tibbets Bach trank das hier gebraute Bier, und viele Leute waren angereist, um Fernan Torfstecher die letzte Ehre zu erweisen, bevor er verbrannt wurde.
Das Heilige Haus krönte die Anhöhe, und Fürsorger Harral hieß jeden herzlich willkommen. Er war ein robuster Mann, noch keine fünfzig, und die hochgekrempelten Ärmel seiner braunen Robe ließen seine muskulösen Arme erkennen. »Dein Dad war ein guter Freund und ein aufrechter, grundsolider Mann«, sagte er zu Lucik, während er ihn fest umarmte. »Wir werden ihn alle sehr vermissen.«
Harral deutete auf das große Portal. »Geh hinein und setz dich in die erste Reihe zu deiner Mam.« Als sie an dem Fürsorger vorbeigingen, lächelte er Renna aus irgendeinem Grund an und zwinkerte ihr zu.
»Sieht ganz so aus, als sei das undankbare Gör aus ihrem Versteck herausgekrochen«, grummelte Harl, als sie auf die Bank hinter Lucik, Beni und den Jungen rutschten. Renna folgte seinem Blick und entdeckte ein paar Reihen weiter ihre älteste Schwester Ilain. Sie stand mit Jeph, Norine Cutter und ihren Kindern zusammen. Sie waren so groß geworden!
»Denk nicht mal dran«, murmelte Harl, packte ihren Arm und drückte ihn schmerzhaft, als sie versuchte, zu ihnen zu gehen und sie zu begrüßen. Harl hatte es Ilain nie verziehen, dass sie weggelaufen
war, obwohl das Ganze inzwischen fünfzehn Jahre zurücklag. Das hatte zur Folge, dass er ihre Kinder, seine Enkel, überhaupt nicht kannte.
»Dieser Hurensohn hat Nerven, hier aufzutauchen«, knurrte Harl weiter und musterte Jeph finster. »Noch so eine diebische Ausgeburt des Horc! Nur weil ich ihnen Obdach gewähre, bilden sich diese Mistkerle ein, sie könnten mit einem meiner Mädchen durchbrennen. Nur gut, dass du damals nicht seinen nichtsnutzigen Sohn geheiratet hast.«
»Arlen war kein Taugenichts«, widersprach Renna traurig und erinnerte sich daran, wie er sie geküsst hatte, als sie noch Kinder waren. Jahrelang hatte sie von weitem für ihn geschwärmt, und als sie einander versprochen wurden, schien ihr Traum in Erfüllung zu gehen. Sie hatte sich immer geweigert zu glauben, dass er von Horclingen getötet worden war, aber wenn er noch lebte, wieso kam er dann nicht zurück, um sie zu holen?
»Was hast du gesagt, Mädchen?«, fragte Harl zerstreut.
»Nichts«, erwiderte Renna.
Die Zeremonie nahm ihren Lauf; Harral erging sich in Lobgesängen über Fernan Torfstecher, während er Siegel auf die Plane malte, in die man den Leichnam eingewickelt hatte, um Fernans Geist auf seinem Weg zum Schöpfer zu schützen.
Als er damit fertig war, trug man den Verstorbenen hinaus zu dem bereits brennenden Scheiterhaufen, den Harral errichtet hatte, und bettete ihn darauf. Gemeinsam mit allen anderen zeichnete Renna Siegel in die Luft und betete, dass Fernans Seele aus dieser von Dämonen heimgesuchten Welt entwich, während die Flammen seinen Körper verzehrten.
Ilain, die auf der anderen Seite des Feuers stand, sah sie mit gedrückter Miene an. Und als sie eine Hand hob, um ihr zuzuwinken, brach Renna in Tränen aus.
Als das Feuer niedergebrannt war, fingen die Leute an, sich zu zerstreuen; manche begaben sich in Meada Torfstechers Haus, wo
sie für die Trauergäste, die ihrem Mann das letzte Geleit gegeben hatten, Erfrischungen bereitgestellt hatte, andere machten sich auf den Heimweg. Manche waren von sehr weit her gekommen, und die Horclinge nahmen keine Rücksicht darauf, ob eine Beisetzung stattgefunden hatte oder nicht. Sobald die Sonne unterging, stiegen sie an die Oberfläche empor.
»Komm, Mädchen, wir sollten jetzt lieber zurückfahren«, meinte Harl und nahm ihren Arm.
»Harl Gerber!«, rief Fürsorger Harral. »Auf ein kurzes Wort!«
Harl und Renna drehten sich um und sahen, dass der Fürsorger sich ihnen näherte, Cobie Fischer im Schlepptau. Cobie hielt den Blick beharrlich auf seine Füße geheftet.
»Was gibt’s?«, knurrte Harl.
»Cobie hat mir erzählt, was letzte Nacht passiert ist«, begann Fürsorger Harral.
»Ach, wirklich?«, brauste Harl auf. »Hat er dir gebeichtet, dass ich ihn in sündhafter Umarmung mit meiner Tochter erwischt habe? Und das, nachdem er hinter meinen Siegeln Schutz gesucht hat?«
Harral nickte. »Ja, das hat er. Und jetzt möchte er dir etwas sagen. Nicht wahr, Cobie?«
Cobie nickte und schlurfte nach vorn, immer noch auf seine Stiefel starrend. »Was ich getan habe, tut mir
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