Das Flüstern der Nacht
Häuser passen aber nicht in das Großsiegel«, gab Smitt zu bedenken.
»Dann legen wir eben noch eines an«, schlug Leesha vor. »Hier gibt es fast tausend Menschen, die arbeiten können, und meilenweite Wälder für das Baumaterial.«
»Es geht nicht nur darum, die Leute vor den Horclingen zu schützen«, warf Darsy ein. »Wie sollen wir so viele mitten im Winter ernähren? Wenn noch mehr eintreffen, werden wir bald alle Schnee fressen.«
Über die Verpflegung hatte sich Leesha auch schon Gedanken gemacht. »Mittlerweile kann jede junge Frau im Tal mit Pfeil und Bogen umgehen. Sie können Wild jagen, und die Jungen stellen Fallen auf.«
»Das wird nie und nimmer reichen«, prophezeite Vika. Leesha nickte. »Ringelwinde ist zwar zäh und schmeckt bitter, aber sie ist nahrhaft, wächst fast überall und gedeiht das ganze Jahr über. Schick die jüngeren Kinder zum Sammeln los, und ich überlege, wie man sie genießbar zubereiten und in großen Mengen haltbar machen kann. Wenn das immer noch nicht genug ist - nun ja, es gibt viele Bäume, deren Rinde man essen kann, und sogar Insekten füllen einen hungrigen Magen.«
»Unkraut und Insekten?« Elona schüttelte sich. »Du verlangst von den Menschen, dass sie Ungeziefer essen?«
»Ich will sie nur nicht verhungern lassen, Mutter«, gab Leesha zurück. »Und wenn es sein muss, dass ich mich vor sie hinsetze und Käfer esse, um mit gutem Beispiel voranzugehen, dann werde ich genau das tun.«
»Dir macht es vielleicht nichts aus«, meinte Elona abfällig. »Aber erwarte nicht von mir, dass ich es nachmache.«
»Du wirst auch deinen Teil dazu beitragen, dass den Flüchtlingen geholfen wird!«, warnte Leesha.
Elona sah sie herausfordernd an. »Ich nehme doch nicht jeden dahergelaufenen Vagabunden in mein Haus auf! Ich führe keinen Gasthof!«
Leesha seufzte. »Es wird langsam dunkel, Mutter. Du solltest jetzt besser nach Hause gehen. Morgen früh reden wir weiter.«
Die anderen fassten das als Ende des Treffens auf und gingen nach Elona aus dem Zimmer. Zurück blieben nur Leesha und Stefny.
»Ärgere dich nicht«, meinte Stefny. »Ich bin sicher, deine Mutter wird nur allzu gern bereit sein, die rizonischen Männer mit den größten Pimmeln bei sich zu beherbergen.«
Leesha warf ihr einen giftigen Blick zu. »Meine Mam ist nicht die einzige Frau in diesem Dorf, die ihr Ehegelübde gebrochen hat«, rief sie ihr ins Gedächtnis. Stefnys jüngster Sohn Keet, mittlerweile fast zwanzig, war nicht von Smitt gezeugt worden, sondern von dem früheren Fürsorger des Ortes, Michel. Weder Smitt noch die übrigen Bewohner des Tals wussten darüber Bescheid, lediglich Bruna, die dem Kind auf die Welt geholfen hatte, war von Anfang an im Bilde gewesen.
»Mach nie den Fehler, anzunehmen, dass Bruna ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen hat«, drohte Leesha. »In Zukunft behalte deine heuchlerischen Bemerkungen für dich.«
Stefny wurde kreidebleich und nickte beklommen. Leesha schnaubte spöttisch durch die Nase, als die Frau überstürzt aus dem Raum wieselte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie genauso klang wie Bruna.
Über eine Woche war vergangen, seit Marick davongeritten war - unter den Jubelrufen und Dankesbezeugungen der Menschen, die
er im Stich ließ - und bevor der Tätowierte Mann und Rojer zurückkehrten. Erny und die Holzfäller waren bereits im Laufe der ersten paar Tage wieder in der Stadt eingetrudelt und brachten Gruppen von Flüchtlingen mit, nur der Tätowierte Mann und Rojer durchstreiften noch weite Bereiche des Umlands, und alle, die ins Tal kamen, konnten Geschichten erzählen, wie sie von ihnen gefunden worden waren.
Leesha war stolz auf Arlen und Rojer, weil sie so vielen Menschen das Leben retteten, doch als sie zurückkamen, hatten bereits so viele Leute im Tal des Erlösers Zuflucht gesucht, dass sie nicht mehr wusste, wie man sie alle verpflegen sollte, selbst wenn man Unkraut und Insekten in die Kost einbezog.
»Wir sind so nahe an Rizon herangeritten, wie wir uns trauten«, erzählte Rojer an dem Tag ihrer Rückkehr, als sie in Leeshas Hütte saßen und heißen Tee tranken. »Ich glaube, dass wir jeden Flüchtling gefunden haben, der auf der Straße unterwegs war, aber einige haben wahrscheinlich versucht, den Weg abzukürzen, und sind querfeldein gelaufen. Die Krasianer haben sich fest eingenistet und schicken regelmäßig Patrouillen aus, die die Straße kontrollieren.«
»Sie haben sich nur vorübergehend eingenistet«,
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