Das Flüstern der Nacht
schlecht benommen, und das tut mir sehr leid.«
Leesha legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich bin kein Kind, Marick. Für das, was passiert ist, war ich genauso verantwortlich wie du.« Wie sehr das stimmte, durfte er niemals erfahren, und in diesem Augenblick war sie entsetzt über das, was sie getan hatte. Damals war es ihr absolut richtig vorgekommen, aber in Wahrheit hatte sie ihm ohne sein Wissen Kräuter verabreicht und ihn für ihre eigenen Zwecke benutzt. Dass er vielleicht noch jahrelang unter den Folgen seines Versagens als Mann leiden würde, hatte sie gar nicht in Betracht gezogen. Vielleicht hatte Rojer gar nicht so Unrecht, wenn er ihr vorhielt, sie sei ihrer Mutter ähnlicher als sie wahrhaben wollte.
»Es ist sehr großmütig von dir, das zu sagen«, meinte Marick und drückte ihren Arm, »aber wir beide, du und ich, wissen, dass es nicht so ist. Ich bin froh, dass du es nach Hause geschafft hast«, fügte er hinzu, »ohne deine Tugend opfern zu müssen.«
Leesha hatte sich zu ihm vorgebeugt, doch bei seinen Worten zuckte sie zurück, denn während dieser Reise hatte man ihr ja ihre Tugend gewaltsam entrissen, sie war auf der Straße von Banditen vergewaltigt worden, weil sie sich ohne einen geeigneten Begleiter auf den Weg gemacht hatte. Und dazu war es nur gekommen, weil Marick seine Ungeduld nicht zügeln konnte und immer zuerst an sich dachte.
Marick schien die Veränderung in ihrem Verhalten nicht zu bemerken. Er gluckste in sich hinein und schüttelte den Kopf. »Ich komme einfach nicht darüber hinweg, wie du jetzt hier im Tal das Regiment führst. Was ist aus dem liebenswürdigen Mädchen geworden, das jedem Mann den Kopf verdrehte, der es nur zu Gesicht kriegte? Über Nacht hast du dich in die Hexe Bruna verwandelt. Ich wette, selbst die Horclinge fürchten sich jetzt vor dir.«
Die Hexe Bruna? War sie ihr wirklich schon so ähnlich geworden? Dieser einsamen Alten, die jeden im Ort anschnauzte und einschüchterte? War sie wie ihre ehemalige Mentorin geworden, nachdem man ihr ihre Keuschheit, die sie sich so lange bewahrt hatte, brutal genommen hatte?
Auch ihre Mutter hatte den Wandel in ihr gespürt. Es war höchste Zeit, dass es passierte, hatte Elona gesagt, und ich denke, es hat dir ganz gutgetan.
Leesha schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären, und sie merkte, dass ihr die Gelegenheit, mit Marick eine Art inneres Band zu knüpfen, allmählich entglitt. »Was hast du als Nächstes vor?«, fragte sie ihn. »Wirst du uns helfen, auf der Straße nach weiteren Überlebenden zu suchen, oder willst du deine Gruppe von Flüchtlingen direkt nach Angiers führen?«
Marick schaute sie verdutzt an. »Weder noch.«
»Wie meinst du das?«
»Jetzt, wo sich die Rizoner in Sicherheit befinden, wird es höchste Zeit, dass ich weiterziehe«, erklärte er. »Der Herzog muss von dem Überfall durch die Krasianer unterrichtet werden, und diese Leute haben mich ohnehin schon lange genug aufgehalten.«
»Sie haben dich aufgehalten?«, hakte Leesha nach. »Ihr Überleben hing von dir ab!«
Marick nickte. »Ich konnte sie nicht einfach ohne Schutz auf der Straße lassen, aber hier kann ihnen ja nichts mehr passieren. Ich bin kein Rizoner. Ich fühle mich nicht mehr für sie verantwortlich.«
»Aber das Tal des Erlösers kann nicht so viele Flüchtlinge beherbergen!«, brauste Leesha auf.
Marick zuckte die Achseln. »Ich wird’s dem Herzog ausrichten. Soll er sich um das Problem kümmern.«
»Hier geht es um Menschen, Marick, nicht um irgendwelche Probleme!«
»Was erwartest du von mir?«, erwiderte Marick. »Soll ich den Rest meines Lebens damit verbringen, auf sie aufzupassen? Das ist nicht die Aufgabe eines Kuriers.«
»Nun, jedenfalls bin ich froh, dass wir beide nie in die Lage geraten sind, gemeinsame Kinder großzuziehen«, schnappte Leesha. »Genieße dein gemütliches Bett, Kurier.« Sie nahm das Tablett, verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
»Was sollen wir tun?«, fragte Smitt. Leesha hatte ein spätes Treffen des Stadtrats einberufen, um über Maricks Entschluss zu diskutieren, die Flüchtlinge im Tal des Erlösers zurückzulassen und am nächsten Morgen allein aufzubrechen.
»Wir nehmen sie bei uns auf, was denn sonst?«, erwiderte Leesha. »Wir bieten ihnen unsere Gastfreundschaft an, während wir ihnen helfen, sich hier eigene Häuser zu bauen. Man kann diese Leute doch nicht ohne Nahrung und ohne Obdach sich selbst überlassen.«
»So viele neue
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