Das Flüstern der Nacht
um und wurde auch schon an Meisterin Jizells ausladenden Busen gepresst, als die ältere Frau sie ungestüm umarmte.
Obwohl Meisterin Jizell bald sechzig wurde, war sie immer noch kräftig und robust, und trotz der fülligen Gestalt unter der Kräutersammlerinnen-Schürze konnte sie unglaublich wendig sein, wenn es drauf ankam. Genau wie Leesha war auch sie bei Bruna
in die Lehre gegangen und leitete nun seit über zwanzig Jahren ihr Hospital in Angiers.
»Ich freue mich, dass du wieder da bist!«, rief Jizell und ließ Leesha erst wieder los, als das schlanke Mädchen anfing, nach Luft zu japsen.
»Und ich freue mich, dass ich wieder hier bin«, erklärte Leesha und erwiderte Jizells strahlendes Lächeln.
»Und der junge Meister Rojer!«, fuhr Jizell mit dröhnender Stimme fort, während sie ihn ebenfalls fest an sich drückte. »Ich denke, jetzt schulde ich dir drei Gefallen! Einen, weil du Leesha damals begleitet hast, und zwei weitere, weil du sie mir jetzt wieder zurückbringst!«
»Das war keine große Leistung«, wehrte Rojer ab. »Ich schulde euch beiden mehr, als ich je wieder gutmachen könnte.«
»Du kannst gleich damit beginnen, indem du für die Patienten heute Abend auf deiner Fiedel spielst«, schlug Jizell vor.
»Mach dir unseretwegen keine Umstände«, warf Leesha ein. »Wenn du keine freien Zimmer hast, übernachten wir im Gasthof.«
»Den Horc werdet ihr tun!«, protestierte Jizell. »Ihr bleibt alle hier bei uns, und damit genug! Wir haben uns viel zu erzählen, und die Mädchen werden dich sehen wollen.«
»Danke«, erwiderte Leesha.
»Und wer sind deine Gefährten?«, fragte Jizell und wandte sich den anderen zu. »Nein, lass mich raten«, schnitt sie Leesha, die ihre Freunde vorstellen wollte, das Wort ab. »Mal sehen, ob die Beschreibungen in deinen Briefen ihnen gerecht werden.« Sie ließ den Blick an Gared auf und ab wandern und legte den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können. »Du musst Gared Holzfäller sein!«
Gared verbeugte sich. »Der bin ich, werte Dame.«
»Gebaut wie ein Bär, aber tadellose Manieren«, lobte Jizell und klatschte mit der flachen Hand auf Gareds beeindruckenden Bizeps. »Wir werden gut miteinander auskommen.«
Sie drehte sich zu Wonda um und zuckte nicht mit der Wimper, als sie die entstellenden Narben im Gesicht der jungen Frau sah. »Wonda, hab ich Recht?«
»Ja, Meisterin!« Auch Wonda verneigte sich.
»Mir scheint, in eurem Tal leben nur höfliche Riesen«, scherzte Jizell. Nach angieranischen Maßstäben war sie keineswegs klein, aber Wonda überragte sie um mehr als Haupteslänge. »Willkommen.«
»Danke, Meisterin.«
Zum Schluss wandte sich Jizell an den Tätowierten Mann, der sich immer noch in seinen Kapuzenumhang hüllte. »Nun, ich denke, du brauchst nicht vorgestellt zu werden. Lass mich dich anschauen.«
Die weiten Ärmel seines Gewandes rutschten bis zu den Ellbogen herunter, als der Tätowierte Mann die Kapuze herunterzog. Als die Tätowierungen zum Vorschein kamen, weiteten sich Jizells Augen ein bisschen, doch sie nahm einfach seine Hände, drückte sie herzlich und blickte ihm offen ins Gesicht.
»Ich danke dir, dass du Leeshas Leben gerettet hast«, sagte sie. Bevor der Tätowierte Mann etwas entgegnen konnte, schloss sie ihn in die Arme. Der Tätowierte Mann warf Leesha einen überraschten Blick zu und erwiderte linkisch die Umarmung.
»Und jetzt würde ich gern ein paar Minuten mit Leesha allein sprechen«, erklärte Jizell dann. »Ihr anderen könnt derweil eure Pferde versorgen.« Alle nickten und Jizell schob Leesha ins Hospital.
Jizells Hospital war mehrere Jahre lang Leeshas Zuhause gewesen, und es hatte nichts von seiner Wärme und Vertrautheit eingebüßt, obwohl es ihr irgendwie kleiner vorkam als noch vor einem Jahr.
»Du wirst dein Zimmer genauso vorfinden, wie du es verlassen hast«, eröffnete Jizell ihr, als hätte sie ihre Gedanken erraten. »Kadie und ein paar der älteren Mädchen murren zwar, aber was mich angeht, so bleibt es dein Zimmer, bis du etwas anderes sagst. Du kannst dort schlafen und deine Gefährten bekommen freie
Betten in den Patientenräumen.« Sie lächelte verschmitzt. »Es sei denn, du möchtest deine Kammer mit einem der Männer teilen.« Verschwörerisch blinzelte sie ihr zu.
Leesha lachte. Jizell hatte sich überhaupt nicht verändert, sie versuchte immer noch, Leesha zu verkuppeln. »Nein, deine Einteilung war schon richtig.«
»Ein Jammer, dass du so wählerisch
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