Das Flüstern der Nacht
Sohn und Gehilfe Pawl«, erklärte er. Der Knabe war nicht älter als zehn Sommer, zierlich wie sein Vater, hatte dasselbe strähnige schwarze Haar und ein Gesicht wie ein Frettchen.
Der Tätowierte Mann nickte dem Jungen zu. »Es ist mir eine Ehre, auch Euch und Euren Sohn kennenzulernen, Lord Janson.«
»Bitte, bitte, nur ›Janson‹«, wehrte der Erste Minister ab. »Ich wurde als Gemeiner geboren wie jeder andere auch; ich bin nichts weiter als ein Sekretär, den die Allgemeinheit aufgrund seines Amtes kennt. Verzeih mir, wenn ich mich in dieser Angelegenheit ein wenig unbeholfen anstelle. Normalerweise ist der Herold des Herzogs, mein Neffe, für derlei Dinge zuständig, aber wie der Zufall es will, bereist er gerade die Dörfer im Umland.«
»Jasin Goldkehle ist der neue Herold des Herzogs?«, platzte Rojer heraus.
Aller Augen richteten sich nun wieder auf ihn, doch Rojer bemerkte das kaum. Jasin Goldkehle und seine Lehrlinge hatten Rojer und seinen Gönner Jaycob vor einem Jahr zusammengeschlagen, und weil sie sie für tot hielten, einfach auf der Straße liegen gelassen, als die Nacht hereinbrach. Rojer hatte den Angriff
nur überlebt, weil Leesha und ein paar tapfere Stadtwächter ihr Leben für ihn riskiert hatten. Meister Jaycob hatte es nicht geschafft. Allerdings zeigte Rojer den Vorfall nie an, er gab vor, sich an die Angreifer nicht zu erinnern. Er hatte Angst, Jasin könnte die Beziehungen seines Onkels dazu nutzen, einer Strafe zu entgehen und ihn dann weiterhin verfolgen.
Doch davon schien Janson nichts zu wissen. Neugierig musterte er Rojer; sein Blick flackerte kurz zur Seite, als prüfe er einen Eintrag in irgendeinem vergessenen Hauptbuch.
»Ah, ja«, sagte er nach einer Weile. »Meister Arrick und Jasin waren mal so etwas wie Rivalen, nicht wahr? Er wird sich bestimmt nicht freuen, wenn er von dessen Aufstieg hört.«
»Er wird es nie erfahren«, gab Rojer zurück. »Er wurde vor drei Jahren auf der Straße nach Waldrand von Horclingen getötet.«
»Was?«, entfuhr es Janson, und er blickte betroffen drein. »Das tut mir leid. Trotz seiner vielen Schwächen war Arrick ein sehr guter Herold und hat dem Herzog treu gedient. Und in Flussbrücke bewies er wahren Heldenmut. Es ist ein Jammer, dass diese Bordellaffäre passieren musste.«
»Bordellaffäre?«, wiederholte Leesha mit einer Spur von Belustigung und sah Rojer fragend an.
Janson wurde puterrot und verneigte sich demütig vor Leesha.
»Äh … äh … Verzeih mir, gute Frau, weil ich ein so heikles Thema in weiblicher Gesellschaft erwähne. Ich wollte niemanden beleidigen.«
»Das habt Ihr auch nicht, Minister«, beruhigte Leesha den verlegenen Mann. »Ich bin eine Kräutersammlerin und an heikle Themen gewöhnt. Leesha Papiermacher«, stellte sie sich vor und reichte ihm die Hand. »Kräutersammlerin im Tal des Erlösers.«
Die Nüstern des Prinzen blähten sich und die Nase des Sekretärs zuckte abermals, als der Name fiel, den die Leute für das Tal
der Holzfäller gewählt hatten, aber Janson nickte nur und sagte: »Ich habe deine Laufbahn aufmerksam verfolgt, seit du anfingst, bei Meisterin Bruna in die Lehre zu gehen.«
»Ach?«, rief Leesha überrascht aus.
Janson sah sie erwartungsvoll an. »Eigentlich sollte dich das nicht wundern. Jedes Jahr werte ich die Volkszählung des Herzogs aus und merke mir die Namen bedeutender Persönlichkeiten im Herzogtum. Von ganz besonderer Wichtigkeit war Bruna, eine Frau, die jedes Jahr in den Listen auftauchte, seit Rhinebeck der Erste vor über einem Jahrhundert diese Erhebungen einführte. Ich halte auf sämtliche ihrer Schülerinnen ein wachsames Auge und war gespannt, wer ihr Erbe antreten würde. Es war ein großer Verlust, als sie letztes Jahr von uns ging.«
Leesha nickte traurig.
Nach kurzem Schweigen aus Respekt vor der Verstorbenen räusperte sich Minister Janson. »Wenn wir schon mal bei diesem Thema sind, Meisterin Leesha«, er musterte sie durch seine Brille, die schon wieder heruntergerutscht war, mit demselben vorwurfsvollen Blick, mit dem er Rojer angestarrt hatte, »dein jährlicher Bericht hätte schon vor Monaten fertig sein müssen.«
Leesha errötete, und hinter ihrem Rücken kicherte Rojer.
»Ich … äh … Wir waren ein bisschen …«
»Ja, ja, ich weiß, in eurem Tal grassierte der Schleimfluss«, half Janson aus. »Außerdem hattet ihr noch andere Sorgen«, fügte er mit einem Seitenblick auf den Tätowierten Mann hinzu. »Dafür habe ich natürlich
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