Das Flüstern der Nacht
bist«, seufzte Jizell. »Du hattest mir erzählt, dass Gared gut aussieht, aber ansonsten hast du ja viel an ihm auszusetzen. Und die Hälfte der Jongleure und Fürsorger in der Stadt tuschelt, der Tätowierte Mann sei der Erlöser höchstpersönlich. Ganz zu schweigen von Rojer, der eigentlich jedem Mädchen gefallen muss, und jeder weiß, dass er in dich vernarrt ist.«
»Rojer und ich sind gute Freunde, weiter nichts, Jizell«, betonte Leesha. »Und dasselbe gilt für die anderen.«
Jizell zuckte die Achseln und verfolgte das Thema nicht weiter. »Ich bin einfach nur glücklich, dass du wieder daheim bist.«
Leesha drückte ihren Arm. »Aber nur für kurze Zeit. Das Tal des Erlösers ist jetzt mein Zuhause. Das Dorf ist zu einer kleinen Stadt angewachsen und kann auf keine Kräutersammlerin verzichten. Lange kann ich nicht fortbleiben; das wird nie wieder möglich sein.«
Jizell atmete tief durch. »Nicht nur, dass ich Vika an das Tal verloren habe, jetzt gehst du auch noch. Wenn dieser Ort mir noch mehr von meinen Schülerinnen stiehlt, kann ich gleich das Hospital verkaufen und mich bei euch niederlassen.«
»Zusätzliche Kräutersammlerinnen kämen uns sehr gelegen«, gab Leesha zu. »Aber zurzeit halten sich dreimal mehr Flüchtlinge im Tal auf als wir durchfüttern können. Im Augenblick wäre für dich und die Mädchen gar kein Platz.«
»Außerdem werden wir an anderer Stelle viel dringender gebraucht«, meinte Jizell.
Leesha seufzte. »Ich rechne damit, dass auch in Angiers bald massenhaft Flüchtlinge eintreffen werden.«
17
Entwicklungen
333 NR - Frühling
Ö ffnet die Tür, im Namen des Herzogs!«, rief eine Stimme kurz nach Tagesanbruch. Der gebrüllte Befehl wurde begleitet von einem lauten Hämmern an der Hospitaltür, die noch verriegelt war.
Jedermann am Frühstückstisch erstarrte und blickte zur Tür. Die Schülerinnen hatten schon längst gegessen und waren emsig dabei, den Patienten das Morgenmahl zu bringen. Nur noch Jizell und ihre Gäste waren in der Küche.
Rojer kam es vor, als hätte die plötzliche Stille Minuten gedauert, doch in Wirklichkeit konnte es nur wenige Sekunden gedauert haben, bis Meisterin Jizell in die Runde sah.
»Nun«, begann sie, wischte sich den Mund ab und stand auf. »Dann sollte ich mich wohl darum kümmern. Ihr bleibt hier sitzen und esst eure Teller leer. Was immer der Herzog will, mit vollem Bauch lässt es sich bestimmt besser regeln.« Sie strich ihr Kleid glatt und marschierte zur Tür.
Sie war noch keine Sekunde weg, da sprang Rojer schon von seinem Stuhl hoch, drückte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Küchentür und lauschte.
»Wo ist er?!«, donnerte die tiefe Stimme eines Mannes, als Jizell die Hospitaltür öffnete. Rojer duckte sich und schob den Kopf
vor, bis er um den Türrahmen spähen konnte, wobei von ihm kaum mehr als ein Auge und eine rote Haarsträhne zu sehen war. Ein groß gewachsener, massiger Mann in einer bunt lackierten Rüstung baute sich vor Meisterin Jizell auf. Ein schöner, vergoldeter Speer war quer über seinen Rücken geschnallt, und auf der Brustplatte prangte das Bild eines Holzsoldaten. Rojer erkannte sofort das Gesicht mit dem kantigen Kiefer.
Hastig drehte er sich zu den anderen um. »Herzog Rhinebecks Bruder, Prinz Thamos!«, zischte er und linste sofort wieder um die Ecke.
»Wir haben viele Patienten, Euer Hoheit«, antwortete Jizell eher amüsiert als ängstlich. »Sie müssen mir den Gesuchten schon etwas näher beschreiben.«
»Mach dich nicht über mich lustig, Frau!«, schnauzte der Prinz und zeigte mit dem Finger auf Jizells Gesicht. »Du weißt sehr wohl …«
»Hoheit, bitte!«, unterbrach eine helle Männerstimme den Prinzen. »Das ist wirklich nicht nötig!«
Ein Mann zwängte sich zwischen sie und breitete die Arme aus, um den Prinzen mitsamt seinem ausgestreckten Zeigefinger von Jizell wegzuschieben. Er war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil des Prinzen, schmächtig und unansehnlich, mit einer Stirnglatze und einem schmalen, verkniffenen Gesicht. Sein strähniges schwarzes Haar war lang und fiel in seinen hohen Kragen hinein, und der schüttere Bart lief am Kinn in einer Spitze aus. Die Brille mit Drahtgestell saß auf der Mitte der länglichen Nase und ließ die Augen wie zwei winzige schwarze Punkte erscheinen.
»Lord Janson, der Erste Minister des Herzogs«, informierte Rojer die anderen.
Thamos funkelte den Minister an, der zurückzuckte, als hätte er Angst,
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