Das Flüstern der Nacht
vollstes Verständnis. Aber dein Vater wird mir gewiss beipflichten, wenn ich sage, dass Papier die Grundlage eines reibungslos funktionierenden Staatswesens ist.«
»Ich glaube auch, dass mein Vater so denkt«, gab sie zu.
»Bitte, Janson«, ergriff Prinz Thamos nun das Wort und schob den Minister kurzerhand zur Seite. Seine stechenden Augen musterten Leeshas Körper mit dem Blick eines Raubtiers, und Rojer platzte beinahe vor Wut. »In letzter Zeit hat das Tal genug Heimsuchungen
erfahren. Verschont die Leute mit Eurem nicht endenden Papierkram!«
Janson runzelte irritiert die Stirn, aber er verneigte sich ehrerbietig. »Selbstverständlich, Euer Hoheit.«
»Prinz Thamos. Ich stehe dir zu Diensten, Meisterin Leesha!« Der Prinz beugte sich über ihre Hand und küsste sie. Rojer blickte finster drein, als er sah, wie sich Leeshas Wangen röteten.
Janson hüstelte und richtete das Wort an den Tätowierten Mann. »Ich denke, wir haben genug über Verwaltungsgeschäfte geredet. Können wir jetzt auf das Anliegen des Herzogs zu sprechen kommen?«
Als der Tätowierte Mann zustimmend nickte, wandte sich Janson an Jizell. »Meisterin, wenn es hier einen Raum gibt, in dem wir uns ungestört unterhalten können …«
Jizell führte sie in ihre Schreibstube. »Ich bringe euch eine Kanne frisch gebrühten Tee«, erklärte sie und ging in die Küche zurück.
Auf dem kurzen Weg zur Schreibstube bot Prinz Thamos Leesha seinen Arm an, und mit nachdenklicher Miene hängte sie sich bei ihm ein. Gared hielt sich in ihrer Nähe, als wollte er sie beschützen, doch falls Leesha oder der Prinz überhaupt davon Notiz nahmen, so ließen sie sich nichts anmerken.
Pawl schnappte sich die Mappe seines Vaters, wieselte beflissen zu Jizells Schreibtisch und breitete einen Wust aus beschriebenen Zetteln und etliche leere Blätter Papier darauf aus. Es folgten eine Schreibfeder, ein Tintenfässchen und ein Löscher - alles griffbereit sortiert -, und zum Schluss rückte er den Sessel für seinen Vater zurecht, der Platz nahm und unverzüglich die Feder in die Tinte tauchte.
Abrupt hob Janson den Kopf. »Es hat doch niemand etwas dagegen, wenn ich den Inhalt unseres Gesprächs für den Herzog festhalte, oder?«, fragte er. »Selbstverständlich werde ich alles streichen, was ihr als unrichtig oder indiskret beurteilt.«
»Mir soll es recht sein«, antwortete der Tätowierte Mann. Janson nickte und heftete den Blick wieder auf das Papier.
»Nun denn«, hob er an, »wie ich Meisterin Jizell schon sagte, entspricht es dem Wunsch des Herzogs, eine Abordnung aus dem … ähem … Tal des Erlösers zu empfangen, jedoch hegt er gewisse Zweifel bezüglich der Auswahl der Repräsentanten. Darf ich fragen, warum der Stadtsprecher Smitt nicht persönlich erschienen ist? Gehört es nicht zu den wichtigsten Pflichten eines Sprechers, seine Stadt in Angelegenheiten wie dieser zu vertreten?« Während er redete, flog seine Hand mit der Feder nur so über das Papier, als er jedes seiner eigenen Worte in einer unleserlichen Kurzschrift festhielt; alle paar Sekunden tunkte er den Federkiel in das Tintenfass, ohne auch nur einen einzigen Tropfen zu verschütten.
Leesha schnaubte durch die Nase. »So kann nur jemand denken, der noch nie längere Zeit in einem Dorf gelebt hat, Minister. In einer Krise erwarten die Leute Beistand von ihrem Sprecher, sie wollen geführt werden. Im Tal treffen derzeit immer noch Flüchtlinge aus Rizon ein, obwohl die, die bereits bei uns Aufnahme gefunden haben, nicht einmal mit dem Notwendigsten versorgt werden können. Smitt konnte nicht fort. Stattdessen hat er mich entsandt.«
»Dich?«, staunte Thamos. »Eine Frau?«
Leesha kniff die Lippen zusammen, aber bevor sie sich zu einer scharfen Entgegnung hinreißen ließ, räusperte sich Janson laut und fuhr fort: »Ich denke, Seine Hoheit meint, unter Einhaltung der geziemenden Rangordnung hätte euer Fürsorger Jona den Stadtsprecher Smitt vertreten müssen.«
»Das Heilige Haus quillt über vor Flüchtlingen«, erklärte Leesha. »Jona war genauso unabkömmlich wie Smitt.«
»Aber auf seine Kräutersammlerin kann das Tal in dieser Zeit der Not verzichten?«, fragte Thamos.
»Seine Gnaden stellt das vor ein schwerwiegendes Problem«, erläuterte Janson und sah Leesha an, obwohl er weiterhin jedes
gesprochene Wort notierte. »Welcher Eindruck könnte am Hof entstehen, wenn er eine Abordnung aus einem seiner Vasallentümer empfängt, der nicht der rechtmäßige
Weitere Kostenlose Bücher