Das Flüstern der Nacht
schweißfeuchten Gesicht. »Renna, Liebes, kannst du mich hören?« Das Mädchen zeigte keinerlei Regung.
»War sie die ganze Nacht so?«, fragte Selia mit gerunzelter Stirn.
»Ay«, bestätigte Jeph.
Seufzend stützte Selia die Hände auf die Knie und stemmte sich in die Höhe. Sie nahm das Messer, dann drehte sie sich um, scheuchte alle aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich.
»Ich habe so etwas schon gesehen, meistens nach einem Dämonenangriff«, erklärte sie, worauf Coline zustimmend nickte. »Die Überlebenden können den Schrecken nicht verkraften, treten geistig weg und starren nur noch in die Luft.«
»Wird sie sich wieder erholen?«, fragte Ilain besorgt.
»Manchmal wachen sie nach ein paar Tagen aus dieser Starre auf«, erwiderte Selia. »Manchmal …« Sie zuckte die Achseln. »Ich will dich nicht belügen, Ilain Strohballen. Soweit ich zurückdenken kann, ist das hier das Schlimmste, was in Tibbets Bach je passiert ist. Seit dreißig Jahren bin ich Stadtsprecherin - mit Unterbrechungen -, und ich habe oft erlebt, dass Menschen vor ihrer Zeit starben, doch noch nie wurde jemand im Zorn getötet. Solche Verbrechen geschehen vielleicht in den Freien Städten, aber nicht hier.«
»Renna könnte niemals …!« Ilains Stimme brach und Selia umfasste tröstend ihre Schultern.
»Deshalb wollte ich ja zuerst mit ihr sprechen, um die Geschichte aus ihrem Mund zu hören.« Sie warf einen Blick auf Raddock. »Die Fischers sind angerückt, weil sie nach Blut lechzen, und ohne eine Verurteilung oder eine einleuchtende Erklärung werden sie sich nicht beruhigen.«
»Mit gutem Grund!«, grollte Raddock. »Wir haben einen unserer Verwandten verloren.«
»Falls es dir entgangen ist, mein Vater ist auch tot«, versetzte Ilain und sah ihn wütend an.
»Dann sollte dir umso mehr daran gelegen sein, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird«, gab Raddock zurück.
Selia zischte vernehmlich, und alle schwiegen. Sie hielt Fürsorger Harral das blutige Messer entgegen.
»Fürsorger, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du die Güte hättest, das hier einzuwickeln und in deiner Kutte zu verwahren, bis wir wieder in der Stadt sind.« Harral nickte und wollte nach dem Messer greifen.
»Was zum Horc hast du vor?«, brüllte Raddock und schnappte dem Fürsorger das Messer vor der Nase weg. »Die ganze Stadt hat ein Recht, dieses Messer zu sehen!« Aufgebracht fuchtelte er mit der Klinge durch die Luft.
Selias Arm schoss vor und ihre knochigen Finger krallten sich um sein Handgelenk. Raddock, der doppelt so viel wog wie sie, lachte, bis sie ihm den Absatz ihres Schuhs auf den Fuß rammte. Vor Schmerz heulte er auf und ließ das Messer los, um seinen Fuß zu umklammern. Selia fing die Klinge auf, bevor sie auf dem Boden landete.
»Benutze deinen Verstand, Advokat!«, fauchte sie. »Das Messer ist ein Beweisstück, und es haben wirklich alle ein Anrecht darauf, es zu sehen. Aber nicht, wenn sich draußen zwei Dutzend Männer mit Speeren zusammengerottet haben und hier ein Mädchen liegt, das vor Schreck wie betäubt ist und sich nicht verteidigen kann. Der Fürsorger wird es schon nicht stehlen.«
Ilain holte ein Tuch, Selia wickelte das Messer darin ein und gab es dem Fürsorger, der es sicher in seinen Gewändern verstaute. Dann raffte sie ihre Röcke und stapfte nach draußen; den Rücken gebeugt, aber hoch erhobenen Hauptes, stellte sie sich vor die im
Hof versammelten Männer, die ärgerlich murrend ihre Speere befingerten.
»Sie ist nicht in der Verfassung, um zu sprechen«, verkündete Selia.
»Wir sind nicht hier, um Gespräche zu führen!«, brüllte Garric, und sämtliche Fischer nickten beifällig.
»Was ihr wollt oder nicht wollt, interessiert mich nicht«, gab Selia knapp zurück. »Es wird nichts unternommen, ehe der Stadtrat wegen dieser Angelegenheit zusammengetreten ist!«
»Der Stadtrat?!«, schrie Garric. »Hier geht es nicht um einen Angriff durch Horclinge! Sie hat meinen Sohn ermordet!«
»Das weißt du nicht, Garric«, widersprach Harral. »Es könnte sein, dass er und Harl sich gegenseitig umgebracht haben.«
»Selbst wenn sie nicht selbst zugestochen hat, ist sie schuldig!«, kreischte Garric. »Sie hat meinen Sohn verhext! Hat ihn zur Sünde verführt und ihrem Dad Schande bereitet!«
»Gesetz ist Gesetz, Garric«, stellte Selia fest. »Bevor wir sie verurteilen, wird es eine Zusammenkunft des Stadtrates geben, auf der du deine Anschuldigungen vortragen kannst und sie die
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