Das Flüstern der Nacht
Jeph zu bedenken. »Wenn sie jemanden getötet hat …«
Wütend fuhr Ilain ihn an. »Was zum Horc glaubst du, haben wir all die Jahre getan?«, fauchte sie. »Vertuscht und gelogen!« Jeph hob die Hände, um sie zu besänftigen, aber sie ließ sich nicht mehr bremsen.
»War ich dir eine gute Ehefrau?«, schnauzte sie. »Habe ich dein Haus in Ordnung gehalten? Dir Söhne geboren? Liebst du mich?«
»Natürlich liebe ich dich«, antwortete Jeph.
»Dann wirst du das für mich tun, Jeph Strohballen. Du tust es für uns alle, auch für Beni und ihre Jungen. Keiner in der Stadt braucht jemals zu erfahren, was auf unserem Hof wirklich passiert ist. Was die Leute sich ausdenken ist schon schlimm genug!«
Jeph schwieg eine lange Zeit, während ihre Blicke sich kreuzten und sie einen stummen Machtkampf austrugen, wer von ihnen den stärkeren Willen hatte. Zum Schluss nickte er. »Also gut. Gleich nach dem Frühstück breche ich auf.«
Im Morgengrauen war Jeph schon auf den Beinen und erledigte trotz seiner vor Müdigkeit schmerzenden Knochen die anfallenden Arbeiten. Die ganze Nacht lang hatten sie versucht, Renna zum Sprechen zu bewegen, doch sie stierte bloß an die Zimmerdecke,
ohne zu schlafen oder zu essen. Nach dem Frühstück sattelte er seine beste Stute.
»Schätze, ich lass die Straße auch links liegen«, sagte er zu Ilain. »Ich nehme eine Abkürzung durch die südöstlichen Felder.« Ilain nickte, schlang die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Er erwiderte die Umarmung, obwohl er bei dem Gedanken daran, was er vielleicht vorfinden würde, ein flaues Gefühl in der Magengrube bekam. Schließlich gab er sie wieder frei. »Ich reite sofort los, dann reicht die Zeit noch, um heute Abend heimzukommen.«
Er hatte sich gerade in den Sattel geschwungen, als Hufgetrappel an seine Ohren drang. Als er hochblickte, sah er ein Fuhrwerk; darauf saßen die Kräutersammlerin, die Schmucke Coline, die sorgenvoll die Hände rang, und die Stadtsprecherin, Selia die Unfruchtbare. Selias grimmige Miene verhieß nichts Gutes; sie war fast siebzig, groß und mager, aber immer noch zäh wie gekochtes Leder, und ihr Verstand war so scharf wie eine Holzfälleraxt.
An einer Seite begleitete Rusco Vielfraß den Karren hoch zu Ross, an der anderen ritten Garric Fischer und Raddock Advokat, Garrics Großonkel und Sprecher des Weilers Fischweiher. Hinter ihnen marschierten zu Fuß der Fürsorger Harral und ungefähr die Hälfte der männlichen Einwohner von Fischweiher, bewaffnet mit schmalen Fischspeeren.
Als der Hof in Sicht kam, trat Garric seinem Gaul die Hacken in die Flanken, galoppierte bis vor die Veranda, auf der Ilain stand, und parierte das Pferd erst im allerletzten Moment durch, so dass es sich aufbäumte, ehe es zum Stehen kam.
»Wo ist sie?«, schnauzte Garric.
»Wo soll wer sein?«, fragte Ilain, die seinem wildem Blick standhielt.
»Treib keine Spielchen mit mir, Frau!«, knurrte Garric. »Ich komme, um deine Schwester zu holen, diese Hure, Hexe und Mörderin, und das weißt du sehr wohl!« Er sprang von seinem
Pferd, stapfte zu ihr auf die Veranda und drohte ihr mit der Faust.
»Keinen Schritt weiter, Garric Fischer!«, schrie Norine Holzfäller, die mit Jephs Axt in den Händen aus dem Haus gestürmt kam. Kurz bevor Jephs Frau starb, war sie zu ihnen auf den Hof gezogen und gehörte genauso zur Familie wie alle anderen. »Du befindest dich auf fremdem Grund und Boden. Du bleibst, wo du bist, und nennst dein Anliegen, oder du wirst es bitter bereuen!«
»Mein Anliegen ist, dass Renna Gerber ihren eigenen Dad und meinen Sohn ermordet hat, und dass sie dafür büßen muss!«, kreischte Garric. »Es ist sinnlos, sie zu verstecken!«
Fürsorger Harral stellte sich zwischen Garric und die Frauen. Er war jung und kräftig, dem älteren, wenn auch genauso stämmigen Garric gewachsen. »Noch ist nichts bewiesen, Garric! Wir möchten ihr nur ein paar Fragen stellen, weiter nichts«, erklärte er Ilain. »Und dir auch, falls sie etwas gesagt hat, als Jeph nicht dabei war.«
»Das reicht nicht, Fürsorger«, mischte sich Raddock ein und saß ab. Er war ein geborener Raddock Fischer, aber jeder in Tibbets Bach nannte ihn Raddock Advokat, weil er im Stadtrat das Dorf Fischweiher vertrat und in seiner Gemeinde als Schlichter bei Rechtsstreitigkeiten fungierte. Von den Ohren bis zum Kinn wucherte ein Gestrüpp aus angegrautem Haar, doch sein Schädel war glatt wie ein Ei. Er war älter als Selia und neigte zum
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