Das Flüstern der Nacht
Jähzorn; in seiner Selbstgerechtigkeit und dem leidenschaftlichen Eifer, Missetäter zu bestrafen, konnte er andere mit seinem Fanatismus anstecken. »Das Mädchen muss für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden!«
Rusco glitt als Nächster von seinem Pferd. Wie immer gab er eine beeindruckende Figur ab, der Mann, dem eine Hälfte von Tibbets Bach direkt gehörte, während die andere bei ihm Schulden hatte. »Garric sagt die Wahrheit, wenn er behauptet, dass
dein Vater und Cobie Fischer tot sind«, wandte er sich an Ilain. »Gestern Abend gingen meine Mädchen und ich nachsehen, was los war, als wir beim Laden Gebrüll hörten, und fanden die Leichen in dem Hinterzimmer, das ich an Cobie vermietet hatte. Sie waren nicht einfach nur erstochen worden, sie waren … verstümmelt. Alle beide. Stam Schneider sagt, kurz bevor es passierte, hätte er deine Schwester dort gesehen.«
Ilain rang nach Luft und schlug die Hände vor den Mund.
»Eine Tragödie«, pflichtete Harral ihm bei. »Und deshalb ist es das Beste, wenn wir umgehend mit Renna sprechen.«
»Gib also die Tür frei!«, befahl Raddock und preschte vor.
» Ich spreche für Tibbets Bach, und nicht du, Raddock Advokat!«, meldete sich Selia zu Wort, und alle verstummten. Jeph streckte die Arme nach ihr aus, um ihr von dem Karren herunterzuhelfen. Kaum berührten ihre Füße den Boden, raffte sie die Röcke, damit sie nicht schmutzig wurden, und marschierte zur Veranda. Die jüngeren Männer, die weitaus größer und kräftiger waren als sie, wichen vor dieser starken Persönlichkeit zurück.
In Tibbets Bach wurde längst nicht jeder so alt wie Selia. Das Leben war hart; nur die gescheitesten, gewitztesten und tüchtigsten erreichten ein hohes Alter, und dementsprechend wurden sie von ihren Mitmenschen behandelt. Früher hatte man Selia respektiert; nun jedoch war sie gefürchtet.
Nur Raddock blieb, wo er war. Im Laufe der Jahre hatte er Selia mehr als einmal aus ihrem Amt als Stadtsprecherin verdrängt, und wenn Alter in Tibbets Bach etwas galt, so hatte er mehr Einfluss als sie, wenn auch nur ein wenig.
»Coline, Harral, Rusco, Raddock und ich werden ins Haus gehen und das Mädchen sehen müssen«, wandte sich Selia an Jeph. Es war keine Bitte, sondern eine Forderung. Diese fünf Personen stellten die Hälfte des Stadtrates dar, und Jeph blieb nichts anderes übrig, als beiseite zu treten und ihnen Einlass zu gewähren.
»Ich komme auch mit!«, knurrte Garric. Die übrigen Fischers, mit denen er versippt und verschwägert war, hatten sich um ihn geschart und nickten mit grimmigen Mienen.
»Auf gar keinen Fall!«, widersprach Selia und fixierte die Gruppe mit einem unnachgiebigen Blick. »In dir brodelt der Zorn, was dir keiner verdenken kann, aber wir sind hier, um zu erfahren, was los war, und nicht, um das Mädchen ohne eine ordentliche Verhandlung zu verurteilen.«
Raddock legte eine Hand auf Garrics Schulter. »Sie läuft schon nicht weg, Gar, das verspreche ich dir.« Garric knirschte mit den Zähnen, doch er rückte zur Seite, als die anderen ins Haus gingen.
Renna lag noch immer genauso da, wie sie sie in der Nacht zuvor ins Bett gelegt hatten, und starrte an die Zimmerdecke. Hin und wieder blinzelte sie. Coline ging direkt zu ihr.
»Ach du meine Güte«, brummte Selia, als sie das blutige Messer auf dem Nachttisch entdeckte. Jeph fluchte in Gedanken. Wieso hatte er es dort liegen lassen? Er hätte es in dem Moment, als er es sah, in den Brunnen werfen sollen.
»Beim Schöpfer«, hauchte Harral und zeichnete ein Siegel in die Luft.
»Seht euch das hier an!«, grunzte Raddock und trat mit dem Fuß gegen eine Schüssel, die neben der Tür stand. Rennas Kleid lag zum Einweichen darin, und das Wasser war vom Blut rosa verfärbt. »Glaubst du immer noch, dass wir nur hier sind, um ein paar Fragen zu stellen, Fürsorger?«
Mit besorgten Blicken und kundigen Händen untersuchte Coline Rennas Prellungen im Gesicht, dann drehte sie sich zu den anderen um und räusperte sich laut. Zuerst glotzten die Männer sie verständnislos an, bis sie begriffen, was von ihnen verlangt wurde; sie kehrten dem Bett den Rücken zu, während Coline die Decken zurückschlug.
»Gebrochen ist nichts«, erklärte Coline, als sie nach der Untersuchung zu Selia ging. »Aber sie wurde schwer geschlagen, und sie hat blaue Flecken am Hals, als hätte man sie gewürgt.«
Selia setzte sich neben Renna auf die Bettkante. Sanft strich sie ihr das Haar aus dem
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