Das Flüstern der Nacht
mit ihrer kleinen Tochter beschäftigt, dass sie sein Verschwinden nicht einmal bemerkten. Cobs neuer Geselle war dankbarer, wollte nichts lieber, als ihm wie ein Sohn sein und das Geschäft übernehmen. Mit einem Ruck wachte der Tätowierte Mann auf, doch die Bilder wirkten nach; er schämte sich für sein Entsetzen, weil dieses Gefühl nur zeigte, wie egoistisch er dachte.
Wenn diese letzte Vision wahr wäre, wäre es für alle das Beste, sagte er sich.
Nachdem die Elemente ein Dutzend Jahre darauf eingewirkt hatten, wies die Stelle, an der Einarm eine Bresche in das Siegelnetz von Miln geschlagen hatte, immer noch eine andere Färbung auf als der Rest der Mauer. Der Tätowierte Mann bemerkte den Unterschied, als er am nächsten Morgen sein Lager abbrach und Schattentänzers Zaumzeug mit den Siegeln wegpackte.
Die drei Träume spukten immer noch in seinen Gedanken herum. Welche Wahrheit wartete innerhalb dieser Mauern auf ihn? Sollte er versuchen, es herauszufinden, und sei es nur um seines Seelenfriedens willen?
Verzichte darauf, warnte ihn die Stimme in seinem Kopf. Du bist hier, um Cob aufzusuchen, und nicht, um die anderen zu treffen. Erspare ihnen den Schmerz. Erspare dir selbst die Enttäuschung. Die Stimme begleitete ihn überallhin, mahnte ihn immer zur Vorsicht. Er glaubte, die Stimme seines Vaters zu hören, obwohl er Jeph Strohballen seit fast fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte.
Er hatte sich daran gewöhnt, sie zu ignorieren.
Nur ein flüchtiger Blick, dachte er. Sie wird mich nicht einmal bemerken. Uns selbst wenn, würde sie mich gar nicht erkennen. Nur ein einziger Blick, den ich in die Nacht mitnehmen kann.
Er ritt so langsam, wie es möglich war, und trotzdem wurden bei seiner Ankunft die Stadttore gerade erst geöffnet. Als Erste kamen die Stadtwachen heraus, die eine Gruppe von Bannzeichnern und deren Lehrlingen eskortierten. Sie steuerten auf scharf abgegrenzte und markierte Bereiche zu, wo sie sich bückten und Objekte aus Glas vom Boden aufhoben, in die Siegel eingeritzt waren; jedes einzelne Teil wurde schnell daraufhin geprüft, ob es sich durch die Berührung mit einem Dämon magisch aufgeladen hatte. Der Tätowierte Mann hatte selbst die Glassiegel nach Miln gebracht, dennoch verblüffte ihn diese massenhafte und geschickte Herstellung, die der im Tal in nichts nachstand, nur dass sie weniger
praktisch ausgerichtet war. Die Milneser Bannzeichner schienen in erster Linie Luxusgegenstände zu kreieren: Spazierstöcke, Statuen, Fensterglas und Schmuck. War erst das Blut der Tiere, mit denen man die Horclinge angeködert hatte, von ihnen abgewaschen, würden sie so transparent sein wie geschliffener Diamant und wesentlich härter.
Die Wachen schauten hoch, als er sich ihnen näherte. An diesem kühlen und feuchten Morgen erschien es nicht so seltsam, dass er die Kapuze übergezogen hatte, doch als sie die an Schattentänzers Sattelzeug befestigten Waffen sahen, hoben sie die Speere, bis der Tätowierte Mann ihnen Rhinebecks Siegel zeigte.
»Du bist früh unterwegs, Kurier«, meinte einer der Wachposten, als die Männer ihre feindselige Haltung aufgaben.
»Ich habe mich beeilt und versucht, die Strecke ohne einen Halt in Hardens Hain zu schaffen«, erklärte der Tätowierte Mann. Die Lüge kam ihm glatt über die Lippen. »Ich dachte schon, es wäre mir geglückt, doch dann hörte ich von weitem den letzten Ton der Abendglocke und wusste, dass ich das Tor vor Sonnenuntergang auf gar keinen Fall mehr erreichen konnte. Eine knappe Meile von hier entfernt legte ich meine Zirkel aus und verbrachte die Nacht unter freiem Himmel.«
»Das war Pech«, erwiderte der Wächter. »Bei dieser Kälte draußen übernachten zu müssen, nur eine Meile von einer warmen Unterkunft und sicheren Mauern entfernt.«
Der Tätowierte Mann, der seit Jahren weder Hitze noch Kälte spürte, nickte und tat so als würde er frösteln; obendrein zog er die Kapuze noch tiefer ins Gesicht, als wolle er sich vor der immer noch frischen Morgenluft schützen. »Ein warmes Zimmer und einen heißen Kaffee könnte ich jetzt gebrauchen. Wenn ich den Kaffee zuerst bekäme, wäre es mir auch recht.«
Der Wächter nickte und wollte ihn durchwinken, als er ihn plötzlich anstarrte. Der Tätowierte Mann verspannte sich und rechnete mit einer Aufforderung, die Kapuze herunterzuziehen.
»Stehen die Dinge im Süden wirklich so schlimm, wie man sagt?«, fragte der Mann ihn stattdessen. »Rizon ist verloren, Flüchtlinge
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