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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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noch ein Junge war, aber er hatte in Euchors Bibliothek gearbeitet und kannte das Wesen des Herzogs. Euchor hortete Wissen wie andere Männer Lebensmittelvorräte oder Gold anhäuften. Wenn er Euchor die Kampfsiegel überließ, würde der Herzog sie nicht an sein Volk weitergeben. Er würde versuchen, seine eigene Macht zu vergrößern, indem er sie geheim hielt.
    Das konnte der Tätowierte Mann nicht zulassen. Er musste die Siegel schleunigst an sämtliche Bannzeichner in der Stadt verteilen. In Miln existierte ein Netzwerk aus Bannzeichnern, eine Gemeinschaft, bei deren Gründung er mitgewirkt hatte. Wenn er die Siegel zu Cob brachte, seinem ehemaligen Meister, konnten sie überall landen, bevor Euchor Zeit hatte, dieses Wissen zu unterdrücken.
    Beim Gedanken an Cob strömten Erinnerungen auf ihn ein, die er lange verdrängt hatte. Seit acht Jahren hatte er weder mit seinem Meister noch mit jemand anderem aus Miln gesprochen. Er hatte Briefe geschrieben, aber nie die Kraft gefunden, sie abzuschicken. Ob es Ragen und Elissa gutging? Ihre Tochter Marya war jetzt acht Jahre alt. Was war aus Cob geworden und aus seinem Freund Jaik? Welches Leben mochte Mery nun führen?

    Mery. Sie hatte ihn während der ersten Jahre davon abgehalten, nach Miln zurückzukehren. Er hätte Jaik wieder gegenübertreten können, ebenso Ragen oder Cob. Elissa hätte ihn geschimpft, weil er ohne ein Abschiedswort fortgegangen war, aber er wusste, dass sie ihm danach verziehen hätte. Es war Mery, die er nicht wiedersehen wollte. Mery, das einzige Mädchen, das er sich erlaubt hatte zu lieben.
    Ob sie noch an mich denkt?, fragte er sich. Hat sie auf mich gewartet, in der Hoffnung, ich käme zurück? Im Laufe der letzten Jahre hatte er sich diese Fragen tausendmal gestellt, doch nachdem sie ihn einmal abgewiesen hatte, fehlte ihm der Mut, nach den Antworten zu suchen.
    Und nun … er musterte die Tätowierungen, die seine Haut bedeckten. Nun konnte er keinem dieser Menschen wieder begegnen, denn sie sollten nicht sehen, was aus ihm geworden war. Cob würde er sich anvertrauen, weil er gar keine andere Wahl hatte, doch für alle anderen wäre es das Beste, wenn sie glaubten, er sei für immer fortgegangen oder gar tot. Er dachte an die Briefe in seiner Tasche. Was in ihnen stand, reichte aus. Er würde sie verteilen und alle wissen lassen, dass der Verfasser einen leichten Tod gefunden hatte.
    Eine große Müdigkeit übermannte ihn, und er legte sich hin. Als er einschlief, sah er Merys Gesicht vor sich. Durchlebte noch einmal die Nacht, in der sie sich getrennt hatten.
    Aber in seinen Träumen veränderte sich die Vergangenheit. Dieses Mal ließ er sie nicht gehen. Er gab seinen Wunsch auf, Kurier zu werden, blieb in Miln, um Cobs Siegelwerkstatt zu übernehmen, und anstatt sich eingeengt zu fühlen, fühlte er sich freier als wenn er ungeschützt durch die Nacht lief.
    Er sah Mery, die in ihrem Hochzeitskleid wunderschön aussah, sah die anmutige Wölbung ihres Bauches, der immer weiter anschwoll, sah sie lachen, umringt von glücklichen, gesunden Kindern. Er sah die lächelnden Kunden, deren Häuser er durch Siegel
sicherte, und er sah den Stolz in Elissas Augen. Den Stolz einer Mutter.
    Seine Arme und Beine zuckten im Dreck, während er vergeblich versuchte, sich dieser Vision zu entziehen; aber der Traum hielt ihn fest und es gab kein Entrinnen.
    Noch einmal erlebte er die Nacht ihrer Trennung, doch dieses Mal entsprach es der Wirklichkeit; nach ihrem Streit ritt er ohne ein weiteres Wort davon. Aber als er Fort Miln hinter sich ließ, folgte sein inneres Auge Mery; er sah, wie sie viele Jahre lang auf der Stadtmauer entlanglief und nach ihm Ausschau hielt. Ihr Gesicht hatte jede Freude und Farbe verloren, und anfangs wirkte sie durch ihre Traurigkeit nur noch schöner. Doch während die Jahreszeiten kamen und gingen, wurde dieses melancholische, hübsche Gesicht abgehärmt und hohl, Kummerfalten bildeten sich um ihren Mund und dunkle Ringe umschatteten ihre glanzlosen Augen. Die besten Jahre ihres Lebens hatte sie mit Warten auf der Mauer verbracht, weinend und betend.
    Und dann sah er ein drittes Mal die Nacht, in der sie sich trennten; und diese letzte Vision verwandelte sich in einen schrecklichen Alptraum. Denn als er wegging, gab es weder Kummer noch großen Schmerz. Am Stadttor hatte Mery hinter ihm ausgespuckt, sich umgedreht, sofort einen anderen gefunden und vergessen, dass er je existiert hatte. Ragen und Elissa waren derart

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