Das Flüstern der Nacht
niemand folgte.
Das Anwesen war kleiner als er es in Erinnerung hatte. Mit elf Jahren war er zum ersten Mal nach Fort Miln gekommen, und damals war ihm Ragens und Elissas Heim wie ein kleines Dorf erschienen, mit seinen hohen Mauern, die die Gärten umsäumten, den Dienstbotenhütten und dem Haupthaus. Nun kam ihm sogar der Hof, der ihm als Junge riesig erschienen war und in dem er reiten und kämpfen gelernt hatte, derart klein vor, dass er sich beengt fühlte. Er war so daran gewöhnt, ungehindert durch die Nacht zu streifen, dass alle Mauern ihn zu ersticken drohten.
Die Diener am Tor ließen ihn ohne ein Wort passieren. Elissa hatte einen Boten zur Villa geschickt und einen zum Gasthof, der Schattentänzer und sein Gepäck abholte. Er überquerte den Hof, betrat die Villa und stieg die Marmortreppe zu seinem ehemaligen Zimmer hinauf.
Er fand es genauso vor, wie er es verlassen hatte. Während seiner Zeit in Miln hatte Arlen viele Sachen erstanden - Bücher, Kleidung, Werkzeug, allerlei Dinge, die mit Siegeln zu tun hatten; solche Mengen konnte ein Kurier nicht mitnehmen, der sich auf das
beschränken musste, was sein Pferd tragen konnte. Das meiste seiner Habe hatte er zurückgelassen und einfach vergessen, doch in dem Zimmer schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Das Bett war mit frischem Leinen bezogen und kein Staubkörnchen war zu sehen, aber nichts war verändert worden. Auf dem Schreibtisch herrschte immer noch dieselbe Unordnung. Eine lange Zeit saß er da, ließ die vertraute Sicherheit seines früheren Heims auf sich einwirken und fühlte sich wieder wie siebzehn.
Ein scharfes Klopfen an der Tür riss ihn aus seiner Versunkenheit. Er öffnete und vor ihm stand Mutter Margrit, mit finsterer Miene, die drallen Arme über der Brust verschränkt. Margrit hatte von Anfang an für ihn gesorgt, als er nach Miln kam, hatte seine Wunden behandelt und ihm geholfen, die Lebensweise in der Stadt zu verstehen. Zu seiner Verblüffung stellte der Tätowierte Mann fest, dass sie ihn auch nach so langer Zeit noch einschüchtern konnte.
»Dann lass dich mal anschauen«, forderte sie ihn auf.
Er brauchte nicht zu fragen, was sie meinte. Wachsam zog er die Kapuze herunter.
Eine geraume Weile betrachtete Margrit ihn, ohne die erwarteten Anzeichen von Entsetzen oder Überraschung zu zeigen. Sie grunzte und nickte vor sich hin.
Dann schlug sie ihn mit voller Kraft ins Gesicht.
»Das ist dafür, dass du das Herz meiner Herrin gebrochen hast!«, schrie sie ihn an. Der Schlag war erstaunlich kräftig ausgefallen, und ehe er sich davon erholen konnte, verpasste sie ihm die nächste Ohrfeige.
»Und das, weil du auch mir das Herz gebrochen hast!«, schluchzte sie. Sie griff nach ihm, zog ihn an sich und schnürte ihm die Luft ab, während sie hemmungslos weinte. »Dem Schöpfer sei Dank, dass dir nichts passiert ist!«, würgte sie unter Tränen hervor.
Bald danach kam Ragen zurück. Er klopfte dem Tätowierten Mann auf die Schulter, sah ihm in die Augen und verlor kein Wort über die Tätowierungen. »Schön, dich wieder bei uns zu haben«, meinte er.
In Wahrheit war der Tätowierte Mann bestürzter als Ragen, denn der ehemalige Kurier trug nun das Schlüsselsiegel der Bannzeichner; in Form einer schweren goldenen Nadel prangte es auf seiner Brust.
»Bist du jetzt der Gildemeister der Bannzeichner?«, vergewisserte er sich.
Ragen nickte. »Nachdem du fort warst, wurden Cob und ich Partner, und durch den Austausch von Siegeln, den du hier eingeführt hast, haben wir uns zum führenden Unternehmen in Miln entwickelt. Cob hatte drei Jahre lang das Amt des Gildemeister inne, bis der Krebs ihn schwächte und er starb. Als sein Erbe war es nur natürlich, dass die Wahl auf mich fiel und ich seine Nachfolge antrat.«
»Keiner in Miln hat diese Entscheidung je bereut«, warf Elissa ein; ihre Stimme war voller Stolz und Liebe, als sie ihren Mann ansah.
Ragen zuckte die Achseln. »Ich habe mich nach Kräften bemüht, alle Aufgaben gut zu erfüllen.« Sein Blick fiel auf den Tätowierten Mann. »Obwohl das Erbe eigentlich dir zugedacht war. Du kannst es immer noch haben. In Cobs Testament steht ausdrücklich, dass der Hauptanteil des Geschäftes, der ihm gehörte, im Falle deiner Rückkehr auf dich übertragen werden soll.«
»Der Laden?«, fragte der Tätowierte Mann. Es traf ihn wie ein Schlag, dass sein alter Meister ihn nach so langer Zeit überhaupt in seinem Testament erwähnt hatte.
»Der Laden, die Siegelbörse,
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