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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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sich nicht von der Stelle und starrte nur auf das Steinpflaster. Die Menschen, die an ihm vorbeigingen, sahen sein tätowiertes Gesicht und fingen erregt an zu tuscheln, doch er merkte es kaum. Zum zweiten Mal hatte Mery ihn weinend verlassen, und er wünschte sich, der Boden möge sich auftun und ihn verschlingen.

    Ziellos wanderte er durch die Straßen, versuchte zu verarbeiten, was Mery ihm vorgeworfen hatte, aber er kam zu keinem Ergebnis. Hatte sie Recht? Hatte er seit der Nacht, in der die Horclinge seine Mutter so schwer verletzt hatten, dass sie an den Wunden gestorben war, irgendjemandem wirklich sein Herz geöffnet? Er kannte die Antwort, die ihre Anschuldigungen nur bestätigte. Die Leute, denen er unterwegs begegnete, schlugen einen weiten Bogen um ihn; seine tätowierte Haut bildete nicht nur gegen die Horclinge eine Barriere, sondern sie schreckte auch seine Mitmenschen ab. Nur Leesha hatte versucht, sie zu durchdringen, und auch sie hatte er weggestoßen.
    Nach einer Weile hob er den Blick und erkannte, dass er unbewusst zu Cobs Laden gegangen war. Der vertraute Ort zog ihn an, und ihm fehlte die Kraft, sich zu widersetzen. Er fühlte sich innerlich leer. Ausgehöhlt. Sollte Elissa sich ruhig beklagen und mit den Fäusten auf ihn losgehen. Der Schmerz, den er bereits erduldet hatte, ließ sich nicht mehr übertreffen.
    Elissa fegte gerade den Boden, als er den Laden betrat. Sie war allein. Beim Klang des Glockenspiels schaute sie hoch, und ihre Blicke begegneten sich. Eine Zeit lang schwiegen beide.

    »Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie verheiratet sind?«, fragte er schließlich. Es klang schmollend und lahm, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein.
    »Du hast mir doch auch nicht alles erzählt«, erwiderte sie. In ihrer Stimme schwang kein Groll mit, keine Spur eines Vorwurfs. Sie klang sachlich, als teile sie ihm mit, was sie zum Frühstück gegessen hatte.
    Er nickte. »Ich wollte nicht, dass du mich so siehst.«
    »Was soll das heißen?«, fragte sie freundlich, stellte den Besen weg und kam zu ihm. Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Hast du Angst, ich könnte mich von deinen Narben abgestoßen fühlen? Ich sehe so was nicht zum ersten Mal.«
    Er wandte sich von ihr ab und sie ließ die Hand wieder sinken. »Meine Narben habe ich mir selbst beigebracht.«
    »Solche Narben haben wir alle.«
    »Mery hat einen Blick auf mich geworfen und ist vor mir geflüchtet als sei ich ein Horcling.«
    »Es tut mir so leid.« Elissa trat hinter ihn und schloss ihn in die Arme.
    Er wollte sich ihr entziehen, aber in ihrer Umarmung schmolz sein Vorsatz dahin. Stattdessen drehte er sich um und hielt sie fest, atmete ihren vertrauten Duft ein und schloss die Augen; er nahm den Schmerz an und ließ ihn aus sich herausströmen.
    Viel zu schnell rückte Elissa wieder von ihm ab. »Ich will sehen, was sie so erschreckt hat.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich …«
    »Psst«, hauchte Elissa, griff in seine Kapuze und legte einen Finger auf seine Lippen. Er verkrampfte sich, als sie ganz allmählich die Hände hob, die Kapuze berührte und sie herunterschob. Ein Angstschauer durchlief ihn und verwandelte sein Blut zu Eis, doch starr wie eine Statue stand er da und ließ alles mit sich geschehen.

    Genau wie Mery riss auch Elissa die Augen auf und rang keuchend nach Luft, aber sie wich nicht vor ihm zurück. Sie sah ihn nur an und bemühte sich, seinen Anblick zu verkraften.
    »Bis jetzt habe ich Siegel noch nie zu schätzen gewusst«, bemerkte sie nach einer Weile. »Für mich stellten sie immer eine Art Werkzeug dar, ein Mittel zum Zweck, wie ein Hammer oder ein Feuer, das man zum Kochen braucht und um sich zu wärmen.« Sie streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht. Ihre weichen Finger wanderten über die Siegel auf seinen Augenbrauen, seinem Kinn, seinem Schädel. »Erst jetzt, seit ich in diesem Laden arbeite, kann ich sehen, wie wunderschön sie sein können. Alles, was die Menschen schützt, die wir lieben, ist schön.«
    Er gab einen erstickten Laut von sich und taumelte, während er anfing zu schluchzen; aber Elissa fing ihn mit einer Umarmung auf und gab ihm Halt.
    »Komm wieder nach Hause, Arlen«, flüsterte sie. »Und wenn es nur für eine Nacht ist.«

23
    Euchors Hof
    333 NR - Frühling
     
     
    D er Tätowierte Mann verließ den Bannzeichner-Laden und ging einen Teil des Wegs, ehe er wieder über die Dachfirste turnte; er wollte sichergehen, das ihm auf seinem Weg zu Ragens und Elissas Villa

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