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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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die Lagerhäuser und die Glasereien«, zählte Ragen auf. »Alles, bis hin zu den Lehrlingsverträgen.«
    »Das reicht aus, um dich zum wohlhabendsten und mächtigsten Mann in Miln zu machen«, ergänzte Elissa.

    Ein Bild huschte durch den Kopf des Tätowierten Mannes; er sah sich selbst, wie er durch die Säle von Herzog Euchors Palast wandelte, Seine Gnaden bei politischen Entscheidungen beriet, während ihm Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von Bannzeichnern unterstellt waren. Er könnte den Handel und Austausch von Siegeln beeinflussen … Allianzen schließen …
    Berichte prüfen.
    Verantwortung an andere delegieren.
    Dienstboten würden um ihn herumscharwenzeln und ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen.
    Er würde innerhalb der Stadtmauern ersticken.
    Energisch schüttelte er den Kopf. »Ich will es nicht. Ich verzichte auf alles. Arlen Strohballen ist tot.«
    »Arlen!«, schrie Elissa. »Wie kannst du so reden, wenn du direkt vor uns stehst?«
    »Ich kann mein altes Leben nicht dort wiederaufnehmen, wo ich es zurückgelassen habe, Elissa.« Er streifte die Kapuze und auch die Handschuhe ab. »Ich habe meinen Weg gewählt. Nie wieder werde ich innerhalb von Mauern leben können. Selbst jetzt kommt mir die Luft schwerer vor, ich habe Mühe zu atmen …«
    Ragen legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich war ebenfalls Kurier«, rief er ihm in Erinnerung. »Ich weiß, wie die Luft in Freiheit schmeckt, und wie sehr man sich danach sehnt, sobald man von Stadtmauern umringt ist. Aber mit der Zeit lässt auch das nach.«
    Der Tätowierte Mann sah ihm ins Gesicht, und sein Blick verdüsterte sich. »Warum sollte ich mir wünschen, dass dieser Drang abnimmt?«, knurrte er. »Wie kommt es, dass der Drang nach Freiheit dich nicht mehr antreibt? Warum bist du freiwillig in ein Gefängnis zurückgegangen und hast dich selbst wieder eingesperrt, obwohl du die Schlüssel nach draußen hattest?«
    »Wegen Marya«, erklärte Ragen. »Und wegen Arlen.«
    »Arlen?«, wiederholte der Tätowierte Mann verwirrt.

    »Nicht du«, grollte Ragen, in dem allmählich auch der Zorn hochkochte. »Ich spreche von meinem fünf Jahre alten Sohn. Arlen. Der dringender einen Vater braucht als sein Vater die Freiheit.«
    Der Schock traf ihn so hart wie Margrits Ohrfeigen, und er wusste, dass er diese Antwort verdiente. Einen Moment lang hatte er mit Ragen geredet als sei er sein eigener Vater. Als sei er Jeph Strohballen aus Tibbets Bach, der Feigling, der tatenlos zugesehen hatte, wie seine Ehefrau von Horclingen zerfetzt wurde.
    Aber Ragen war kein Feigling. Das hatte er tausendmal bewiesen. Der Tätowierte Mann hatte selbst gesehen, wie er lediglich mit Speer und Schild bewaffnet den Horclingen die Stirn bot. Ragen gab den allnächtlichen Kampf nicht auf, weil er sich fürchtete. Er tat es, weil er mutig war.
    »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Du hast Recht. Ich hätte nicht …«
    Ragen stieß den Atem aus. »Schon gut, Junge.«
    Der Tätowierte Mann ging zu der Reihe von Porträts, die an den Wänden von Ragens und Elissas Empfangszimmer hingen. Fast jedes Jahr ließen sie eines malen, um den Lauf der Zeit festzuhalten. Das erste stellte nur Ragen und Elissa dar, die beide sehr jung aussahen. Das nächste war ein paar Jahre später angefertigt worden, und als der Tätowierte Mann sich davor stellte, sah ihm sein eigenes, untätowiertes Gesicht entgegen, wie er es seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Arlen Strohballen, ein zwölf Jahre alter Junge, saß auf einem Stuhl, hinter dem Arlen und Elissa standen.
    Auf den Porträts wurde er zunehmend älter, bis er in einem Jahr zwischen Ragen und Elissa stand, die neugeborene Marya auf dem Arm.
    Auf dem Porträt des nächsten Jahres fehlte er, aber schon bald erschien ein neuer Arlen. Sachte berührte er die Leinwand. »Ich wünschte, ich wäre bei seiner Geburt hier gewesen. Ich wünschte, ich könnte jetzt für ihn da sein.«

    »Aber das kannst du doch«, erwiderte Elissa resolut. »Du gehörst zur Familie, Arlen. Du musst kein Leben führen wie ein Bettler. Bei uns wirst du immer ein Zuhause haben.«
    Der Tätowierte Mann nickte. »Das sehe ich jetzt ein. Früher war ich mir dessen nicht bewusst, was ich sehr bedaure. Was ich euch angetan habe, war falsch. Ihr habt einen besseren Ziehsohn verdient als mich, aber ich fürchte, mehr kann ich euch nicht geben. Gleich nach meiner Audienz mit dem Herzog verlasse ich Miln.«
    »Was?!«, rief Elissa. »Du bist doch gerade erst

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