Das Flüstern der Nacht
angekommen!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe meinen Weg gewählt und muss ihn bis zum Ende gehen.«
»Und was wird dein nächstes Ziel sein?«, erkundigte sich Elissa.
»Als Erstes reite ich nach Tibbets Bach. Ich bleibe nur so lange dort, bis ich den Leuten dort die Kampfsiegel gegeben habe. Und sofern es euch gelingt, die Siegel in ganz Miln und den Dörfern zu verteilen, gehe ich danach mit demselben Anliegen zu den Angieranern und den Laktonianern.«
»Erwartest du, dass jeder winzige Weiler sich erhebt und kämpft?«, fragte Elissa.
Er schüttelte den Kopf. »Ich verlange von niemandem, dass er kämpft. Aber hätte mein Dad damals einen Bogen und Pfeile mit Kampfsiegeln gehabt, könnte meine Mam vielleicht noch leben. Jeder soll die Chance bekommen, die sie nicht hatte, das bin ich allen Menschen schuldig. Sind die Kampfzeichen erst einmal so weit verbreitet, dass sie nie wieder verlorengehen können, sollen die Leute selbst entscheiden, was sie mit ihnen anfangen.«
»Und dann?«, drängte Elissa; in ihrer Stimme schwang immer noch die Hoffnung mit, er könnte eines Tages doch noch zurückkommen und bleiben.
»Dann kämpfe ich. Jeder, der mitmachen will, ist willkommen, und gemeinsam werden wir Dämonen töten, bis wir sterben oder
bis Marya und Arlen den Sonnenuntergang frei von Angst beobachten können.«
Es war spät und die Dienstboten hatten sich längst zur Ruhe begeben. Ragen, Elissa und der Tätowierte Mann saßen im Studierzimmer beisammen und tranken Branntwein, die Männer rauchten; der Rauch aus den Pfeifen verbreitete einen süßlichen Geruch.
»Ich wurde aufgefordert, morgen an der Audienz des Herzogs mit dem ›Tätowierten Mann‹ teilzunehmen«, erzählte Ragen, »aber ich muss gestehen, ich wäre in hundert Jahren nicht darauf gekommen, dass sie über dich sprechen.«
Er schmunzelte. »Ich muss Bannzeichner abstellen, die als Dienstboten verkleidet versuchen sollen, deine Tätowierungen zu kopieren, während du durch das Gespräch mit Seiner Gnaden abgelenkt bist.«
Der Tätowierte Mann nickte. »Ich behalte die Kapuze auf.«
»Warum?«, fragte Ragen. »Warum hältst du diese Siegel geheim, wenn dir doch so sehr daran gelegen ist, sie in alle Welt zu verbreiten?«
»Weil Euchor sie mit niemandem teilen würde. Und seine Gier kann ich zu meinem Vorteil nutzen. Ich will ihn hintergehen. Er soll glauben, dass er sie mir abkauft, während du sie in aller Stille an jeden Bannzeichner im Herzogtum weitergibst. Streue sie so weit aus, dass Euchor sie gar nicht mehr verstecken kann.«
Ragen grunzte. »Schlau eingefädelt«, fand er. »Euchor kriegt einen Tobsuchtsanfall, wenn er erfährt, dass du ihn eingewickelt hast.«
Der Tätowierte Mann zuckte die Achseln. »Bis dahin bin ich längst weg, und er hat nichts Besseres verdient, weil er das gesamte Wissen der alten Welt in seine Bibliothek einschließt und nur einer Handvoll Leuten zugänglich macht.«
Ragen nickte. »Ich denke, dann werde ich so tun, als sähe ich dich während der Audienz zum ersten Mal. Wenn herauskommt, wer du in Wirklichkeit bist, tue ich so, als wäre ich genauso verblüfft wie alle anderen.«
»Das dürfte wohl das Klügste sein«, stimmte der Tätowierte Mann ihm zu. »Wer wird deiner Ansicht nach noch bei der Audienz sein?«
»So wenig Leute wie möglich«, mutmaßte Ragen. »Euchor freut sich sogar, dass du schon im Morgengrauen vor dem Palast auftauchst, denn dann kannst du rein- und wieder rauskommen, bevor die Fürsorger und der Adel Wind von dem Treffen bekommen. Außer dem Herzog und seiner Kammerfrau Jone bin ich dabei, Malcum, der Gildemeister der Kuriere, Euchors Töchter und meine als Dienstboten posierenden Bannzeichner.«
»Erzähl mir mehr von Euchors Töchtern«, bat der Tätowierte Mann.
»Hypatia, Aelia und Lorain«, zählte Ragen auf. »Alle so dickköpfig wie ihr Vater, und keine von ihnen hübscher. Sie sind alle Mütter und haben Söhne geboren. Wenn Euchor nicht einen eigenen Sohn zeugt, wird der Rat der Mütter den nächsten Herzog aus dieser Gruppe unseliger Bengel wählen.«
»Dann wird ein Junge Herzog, wenn Euchor stirbt?«
»Vor der Öffentlichkeit, ja«, bestätigte Ragen. »Obwohl im Grunde die Mutter des Knaben Herzogin sein wird, nur dass sie keinen Titel trägt. Sie regiert dann anstelle ihres Sohnes, bis der das Mannesalter erreicht hat … und vielleicht noch darüber hinaus. Du darfst keine von ihnen unterschätzen.«
»Ich werde mich hüten«, versprach der
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