Das Flüstern der Nacht
Tätowierte Mann.
»Du solltest auch wissen, dass der Herzog einen neuen Herold hat.«
Der Tätowierte Mann zuckte mit den Schultern. »Was spielt das für eine Rolle? Ich kannte ja nicht mal den alten.«
»Es spielt sogar eine ziemlich große Rolle«, widersprach Ragen. »Denn der neue ist Keerin.«
Abrupt hob der Tätowierte Mann den Kopf. Keerin war Ragens Jongleurpartner gewesen, als sie den jungen Arlen auf der Straße fanden, bewusstlos und dem Tode nahe, weil er an Dämonenfieber litt, nachdem er Einarm verkrüppelt hatte. Der Jongleur war eine feige Memme gewesen, er hatte sich wimmernd unter seinem Bettzeug verkrochen, als Dämonen die Siegel attackierten. Doch Jahre später hatte der Tätowierte Mann ihn dabei ertappt, wie er eine Vorstellung gab und behauptete, er selbst habe den Horcling verstümmelt, einen Felsendämon, der Nacht für Nacht versuchte, in die Stadt einzudringen, um sich an Arlen zu rächen, und es einmal sogar schaffte, eine Bresche in die Mauer zu reißen. Arlen hatte Keerin vor versammeltem Publikum einen Lügner genannt, woraufhin er und Jaik von Keerins Lehrlingen böse verprügelt worden waren.
»Wie kann ein Mann, der sich weigert, längere Reisen zu unternehmen, als Herold den Herzog zu vertreten?«, wunderte sich der Tätowierte Mann.
»Euchor stärkt seine Machtstellung, indem er nicht nur Wissen, sondern auch Persönlichkeiten hortet«, erklärte Ragen. »Keerins albernes kleines Liedchen über Einarm hat ihn beim Adel zu einem gefragten Unterhalter gemacht, und das erregte Euchors Aufmerksamkeit. Nicht lange, und Keerin durfte sich über eine herzogliche Bestallung freuen, und jetzt tritt er nur noch vor dem Herzog auf.«
»Dann dient er in Wahrheit also gar nicht als Herold«, schlussfolgerte der Tätowierte Mann.
»Oh doch, er ist schon im Auftrag des Herzogs unterwegs«, sagte Ragen. »Die meisten Dörfer kann man ja erreichen, ohne auf einen ordentlichen Schutzbereich verzichten zu müssen. Und Euchor hat sogar ein paar zusätzliche Wegstationen bauen lassen, um dem ängstlichen kleinen Wiesel entgegenzukommen.«
Bei Tagesanbruch wurden die Tore zum herzoglichen Palast geöffnet, und der Erste, der hindurchschritt, um den Tätowierten Mann zu begrüßen, war kein geringerer als Keerin.
Keerin hatte sich kaum verändert; selbst für einen Milneser war er groß, mit karottenrotem Haar und strahlend grünen Augen. Er hatte ein bisschen Fett angesetzt, zweifellos dank der Privilegien, die sein neuer Gönner ihm verschaffte. Sein schmaler, schütterer Oberlippenbart war immer noch nicht mit der flusigen Locke an seinem Kinn zusammengewachsen, obwohl der Puder, der sich in den Falten seines Gesichts sammelte, von dem Versuch zeugte, seine schwindende Jugend zu erhalten.
Als er Keerin das letzte Mal gesehen hatte, hatte dieser die aus kunterbunten Flicken bestehende Jongleurstracht getragen; nun jedoch war er ein herzoglicher Herold und dementsprechend gekleidet. Der Wappenrock setzte sich aus Stoffstücken zusammen, die in Euchors Farben gehalten waren, Grau, Weiß und Grün, und verlieh ihm ein ernsteres Aussehen. Doch er trug immer noch weit geschnittene, lose sitzende Hosen, für den Fall, dass er aufgefordert wurde, Purzelbäume zu schlagen, und auf die Innenseite seines schwarzen Umhangs waren bunte Seidenflecken genäht, die er mit einem einzigen Schwenk enthüllen konnte.
»Es ist mir eine Ehre, dich zu treffen, werter Mann!« Keerin verbeugte sich förmlich. »Vor Beginn der Audienz erwartet Seine Gnaden noch ein paar seiner wichtigsten Ratgeber. Wenn du die Güte hättest, mich zu begleiten, dann führe ich dich in ein Wartezimmer.«
Der Tätowierte Mann folgte ihm durch den Palast. Als er das letzte Mal durch die Flure und Säle gegangen war, herrschte hier rege Betriebsamkeit; Dienstboten und Mütter eilten in Geschäften des Herzogs hin und her. Aber so früh am Morgen waren die Flure noch verwaist, bis auf vereinzelte Diener, die dafür geschult waren, sich möglichst unsichtbar zu machen.
Summende Lampen beleuchteten den Weg mit einem pulsierenden Glühen. Diese Lampen benötigten zum Brennen weder Öl
noch Docht und auch keine Chemikalien, wie Kräutersammlerinnen sie benutzten. Die Kraft, die sie betrieb, nannte man Lektrizität, auch etwas, das der alten Wissenschaft angehörte und von Euchor eifersüchtig gehütet wurde. Es wirkte wie Magie, aber von seinen Studien in der herzoglichen Bibliothek wusste der Tätowierte Mann, dass es sich lediglich
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