Das Flüstern der Nacht
Wenn Mery ihm etwas verraten hatte …
Doch obwohl Ronnell ihn voller Interesse betrachtete, lag in seinem Blick kein Erkennen. Sein Geheimnis blieb gewahrt, zumindest vorläufig.
Zwei Wachen schlossen hinter ihnen die Tür und kreuzten von innen ihre Speere darüber. »Diener«, alle mit Schreibtafeln, drückten sich verstohlen hinter den Säulen herum, während sie ihn scharf beobachteten.
Von nahem gesehen war Euchor fetter und älter als der Tätowierte Mann sich an ihn erinnerte. Er trug immer noch Ringe an jedem Stummelfinger, und an seinem feisten Hals hing ein Vermögen in Goldketten, aber das Haar unter der goldenen Krone war lichter geworden. Einst mochte er eine stattliche Erscheinung abgegeben
haben, nun sah er jedoch aus als könne er sich ohne Hilfe kaum noch von seinem Thron hochstemmen.
»Herzog Euchor, Licht der Berge und Gebieter über Miln«, rief Keerin, »darf ich Euch den Tätowierten Mann vorstellen, Kurier im Auftrag des Herzogs Rhinebeck, Hüter der Waldfestung und Gebieter über Angiers.«
In Gedanken hörte er Ragens Stimme, wie immer, wenn er einem Herzog begegnete. Händler und Herzöge werden dich herumkommandieren, wenn du es zulässt. In ihrer Anwesenheit musst du auftreten wie ein König, und du darfst niemals vergessen, dass du es bist, der sein Leben riskiert.
Diesem Ratschlag gemäß straffte er die Schultern und marschierte festen Schrittes nach vorn. »Seid gegrüßt, Euer Gnaden«, rief er, ohne darauf zu warten, angesprochen zu werden. Sein Gewand bauschte sich, als er eine elegante Verbeugung machte. Seine Kühnheit löste Gemurmel aus, aber Euchor gab vor, nichts zu bemerken.
»Willkommen in Miln«, erwiderte er den Gruß. »Wir haben viel über dich gehört. Ich gestehe, ich gehörte zu der großen Schar der Zweifler, die dich für einen Mythos hielten. Bitte, tue mir den Gefallen.« Er vollführte eine Geste als würde er eine Kapuze herunterziehen.
Der Tätowierte Mann nickte und streifte die Kapuze ab; überall im Raum ertönten halberstickte Ausrufe des Erstaunens. Und Ragen gelang es sogar, die gebührende Verblüffung zu heucheln.
Er wartete, bis alle Gelegenheit hatten, ihn ausgiebig zu mustern. »Beeindruckend«, räumte Euchor ein. »Die Geschichten werden dir nicht gerecht.« Noch während er sprach, gingen Ragens Bannzeichner ans Werk, tunkten emsig ihre Federn in die Tinte und beeilten sich, jedes Symbol, das sie sehen konnten, zu kopieren, wobei sie gleichzeitig versuchten, sich möglichst unauffällig zu verhalten.
Dieses Mal erklang Cobs Stimme in seinem Kopf. Du kannst Fort Miln nicht mit Tibbets Bach vergleichen, Junge. Hier gibt es
nichts umsonst. Er glaubte nicht, dass die Ausbeute der Bannzeichner groß sein würde - dazu waren die meisten seiner Schutzzeichen viel zu klein und lagen zu eng beieinander -, trotzdem zog er die Kapuze wie beiläufig wieder hoch, ohne dem Blick des Herzogs auch nur einen Moment lang auszuweichen. Die Botschaft war klar. Seine Geheimnisse würde er teuer verkaufen.
Euchor sah vielsagend zu den Bannzeichnern hin, die angesichts seiner mangelnden Diskretion unwirsch die Stirn runzelten.
»Ich überbringe eine Botschaft des Herzogs Rhinebeck von Angiers«, erklärte der Tätowierte Mann und hob die versiegelten Papiere hoch.
Der Herzog ging nicht darauf ein. »Wer bist du?«, fragte er rundheraus. »Woher kommst du?«
»Ich bin der Tätowierte Mann. Und ich komme aus Thesa.«
»Dieser Name ist in Miln geächtet«, versetzte der Herzog. »Er darf nicht ausgesprochen werden.«
»Trotzdem ist es so«, beharrte der Tätowierte Mann.
Die unerschrockene Entgegnung schien den Herzog sichtlich zu verblüffen. Mit nachdenklicher Miene lehnte er sich zurück. Euchor unterschied sich von den anderen Herzögen, die der Tätowierte Mann auf seinen Reisen getroffen hatte. Die Herzöge von Lakton und Rizon verfügten nicht wirklich über Macht, sondern hatten im Wesentlichen nur die Aufgabe, die Beschlüsse des Stadtrats zu verkünden. In Angiers herrschte Rhinebeck, doch anscheinend trafen seine Brüder und Janson genauso viele Entscheidungen wie er. In Miln jedoch entschied einzig und allein Euchor. Er hatte eindeutig seine Ratgeber im Griff, und nicht umgekehrt. Die Tatsache, dass er sich so lange an der Macht gehalten hatte, zeugte von seiner Schläue.
»Kannst du wirklich mit bloßen Händen Dämonen töten?«, wollte er wissen.
Der Tätowierte Mann lächelte. »Wie ich bereits Eurem Jongleur anbot, Euer Gnaden, lade ich
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