Das Flüstern der Nacht
dieser Siegel ausging, die die Frau aus dem Nordland angefertigt hatte.
Im Hof warteten noch mehr Überraschungen auf ihn; er war durchzogen von weiteren Steinpfaden, die rings um die Hütte und ihre Umgebung ein verschlungenes Siegelnetz woben. Ein großer Garten stand in voller Blüte, die Kräuter und Blumen waren in akribisch abgezirkelten Gruppen arrangiert, deren Linien wiederum Siegel bildeten. Viele dieser Symbole waren Jardir fremd, aber er erkannte genügend Zeichen wieder, um zu begreifen, dass sie Horclinge nicht nur abwehrten oder töteten, sondern noch wesentlich mehr bewirken konnten.
Stärker denn je fühlte er sich von Everams Willen durchdrungen. Diese Frau war dazu bestimmt, seine Gemahlin zu werden. Wenn sie und Inevera hinter ihm standen, gab es da noch etwas auf der Welt, das er nicht erreichen konnte?
Wonda hackte Brennholz zum Befeuern des Herdes, während Leesha das Mittagsmahl zubereitete und dabei dem rhythmischen Klopfen der Axt zuhörte, das auf sie irgendwie beruhigend wirkte. Die simple Tätigkeit in der Küche half ihr, ihre Gedanken zu klären, als sie die Ereignisse der vergangenen Nacht noch einmal durchging und die Männer, die sie kennengelernt hatte, mit den Erzählungen der Flüchtlinge und Arlens Warnungen verglich.
Nicht, dass sie diesen Berichten misstraut hätte, aber Leesha zog es vor, sich eine eigene Meinung zu bilden. Viele der Flüchtlinge kannten die Geschichten, die sie weitertrugen, auch nur vom Hörensagen, und manches war wohl übertrieben. Arlen konnte manchmal sein Herz verhärten, das Verzeihen fiel ihm schwer. In Krasia musste ihm etwas zugestoßen sein, jemand hatte ihm etwas angetan, das er weder vergeben noch vergessen wollte. Doch da er niemals darüber sprach, blieb Leesha gar nichts anderes übrig, als Mutmaßungen anzustellen.
Von den Krasianern konnte man behaupten, was man wollte, fest stand, dass sie unvergleichliche Krieger waren. Das hatte Leesha sofort gemerkt, als sie sie im Kampf beobachtet hatte. Die Holzfäller waren im Allgemeinen größer und hatten ausgeprägtere Muskeln, aber sie bewegten sich nicht mit der Präzision, welche die dal’Sharum auszeichnete. Die fünfzig Krieger, die auf der Lichtung lagerten, konnten eine Schneise der Verwüstung durch das Tal schlagen, bevor man sie niedermachte; und wenn der Rest von Jardirs Armee nur halb so gut kämpfte wie diese Eliteeinheit, hätten die Talbewohner im Falle eines Kampfes nicht die geringste Chance gegen sie, selbst wenn sie sämtliche Geheimnisse des Feuers anwandte, die ihr bekannt waren.
Deshalb war sie zu dem Schluss gelangt, dass ein Streit unbedingt vermieden werden musste. Es war ein Unterschied, ob man Dämonen tötete oder Menschen; jedes Menschenleben war kostbar. In den Büchern aus der alten Welt hieß es, einst hätten Milliarden von Menschen die Welt bevölkert, doch wie viele lebten noch nach der Rückkehr der Dämonen? Eine Viertelmillion? Der Gedanke, dass die letzten noch existierenden Menschen einander bekämpften, machte sie krank.
Trotzdem konnte sie sich nicht geschlagen geben. Sie hatte keineswegs die Absicht, den Krasianern das Tal einfach zu überlassen. Es war wie damals, als sie und Rojer auf der Straße überfallen worden waren und sie sich in die Hand gespuckt und ihre Scheide
angefeuchtet hatte, um es ihren Vergewaltigern zu erleichtern, in sie einzudringen, damit sie sie nicht noch mehr verletzten, als sie es ohnehin schon tun würden. Sie hatte hart gearbeitet, um den Talbewohnern nach der Schleimfluss-Epidemie wieder auf die Beine zu helfen, und jetzt hatte sie ihr Bestes gegeben, damit die Flüchtlinge aus Rizon und Lakton in die Dorfgemeinschaft aufgenommen werden konnten. Diese Menschen lieferte sie keinem Eroberer aus. Wenn es einen Weg gab, einen Frieden auszuhandeln, musste sie ihn finden.
Die erste Begegnung mit dem krasianischen Anführer machte Hoffnung, dass noch nicht alles verloren war. Dieser Mann war kultiviert und intelligent, ganz und gar nicht die tollwütige Bestie, als die er in den Schilderungen dargestellt wurde. Offensichtlich hielt er an seinen Überzeugungen fest, auch wenn Leesha sie mitunter brutal und grausam fand. Aber sie hatte ihm tief in die Augen geschaut und dort keine Grausamkeit gefunden. Wie ein strenger Vater, der eine für notwendig erachtete Prügelstrafe vollzog, tat Ahmann Jardir nur das, was nach seinem Ermessen das Beste für die Menschheit war.
Leesha hielt in ihrer Arbeit inne, als ihr auffiel, dass
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