Das Flüstern der Nacht
Wonda mit dem Holzhacken aufgehört hatte. Als die Tür aufging und Wonda auf der Schwelle stand, blickte sie hoch.
»Wasch dir die Hände und deck den Tisch«, trug Leesha ihr auf. »In ein paar Minuten ist das Mittagessen fertig.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Meisterin, aber Rojer und Gared sind hier«, meldete Wonda.
»Sag ihnen, sie sollen reinkommen, und leg zwei Gedecke mehr auf.«
Aber Wonda rührte sich nicht vom Fleck. »Sie haben jemanden mitgebracht.«
Leesha legte das Messer auf das Schneidebrett und wischte sich die Hände an einem Lappen ab, während sie zur Tür ging. Auf ihrer vorderen Veranda stand seelenruhig Ahmann Jardir und sah
geflissentlich über Gared hinweg, der ihn anstierte, als wolle er ihn mit Blicken erdolchen. Über seiner schwarzen Kriegertracht trug er ein schönes weißes Gewand, passend zu dem weißen Turban, in dem seine Krone ruhte. Leesha betrachtete flüchtig die Siegel in dem Goldreif, aber sie zwang sich dazu, nicht allzu offensichtlich zu starren. Stattdessen ließ sie den Blick hinunterwandern zu seinen Augen und erschrak, als sie erkannte, mit welcher Intensität dieser Mann sie ansah; ihr war fast so, als könne er bis in ihre Seele hineinschauen.
Jardir verneigte sich tief. »Vergib mir meinen unangekündigten Besuch, Meisterin.«
»Nur ein Wort, und ich schleife ihn dorthin zurück, wo er hergekommen ist, Leesha!«, knurrte Gared.
»Unsinn!«, versetzte Leesha. »Du bist willkommen«, wandte sie sich an Jardir. »Wonda und ich wollten gerade unser Mittagsmahl einnehmen. Möchtest du uns nicht Gesellschaft leisten?«
»Es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen«, erwiderte Jardir galant und verbeugte sich wieder. Er folgte Leesha in die Hütte, wobei er vor der Tür kurz stehen blieb und seine Sandalen auszog. Leesha sah, dass selbst seine Füße mit Siegelnarben bedeckt waren. Mit einem Fußtritt konnte er einem Horcling vermutlich genauso viel Schaden zufügen wie der Tätowierte Mann.
Die Mahlzeit, die Meisterin Leesha zubereitet hatte, bestand aus einem fleischlosen Eintopf, zu dem frisch gebackenes Brot und Käse gereicht wurden. Jardir neigte den Kopf, als sie ein Tischgebet sprach, in dem sie den Schöpfer bat, die Speisen zu segnen, und dann fingen alle gleichzeitig an zu essen. Er hob seine Schale an, um die sämige Suppe zu trinken, doch dann sah er, dass die
Nordländer ihre auf dem Tisch stehen ließen und irgendein Werkzeug benutzten, um das Essen in den Mund zu befördern.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch neben seinem Gedeck eines dieser Utensilien lag - ein Holzstreifen mit einer Delle an einem Ende. Er beobachtete Leesha und ahmte ihre Bewegungen nach, als er von dem Gericht kostete. Es schmeckte vorzüglich und enthielt Gemüsesorten, die er nicht kannte. Er griff beherzt zu und machte es wie Gared und Wonda, die mit dem groben Brot, das im Nordland gebacken wurde, die letzten Tropfen aus ihren Schalen wischten.
»Köstlich«, lobte er die Meisterin, und als er sah, wie sehr sie sich über das Kompliment freute, durchrann ihn ein wohliger Schauer. »In Krasia gibt es solches Essen nicht.«
Leesha lächelte. »Wir können viel voneinander lernen, wenn wir einen Weg des friedlichen Zusammenlebens finden.«
»Du sprichst von Frieden, Meisterin? So etwas gibt es auf Ala nicht. Nicht, solange die alagai die Nacht beherrschen und die Menschen sich vor ihnen ducken.«
»Dann stimmt es also, was man sagt?«, fragte Leesha. »Dass du uns unterwerfen und unsere Leute für den Sharak Ka mobilisieren willst?«
»Warum sollte ich euch unterwerfen wollen?«, gab Jardir zurück. »Deine Leute neigen vor dem Schöpfer in Demut ihr Haupt, trotzen der Nacht und vergießen Blut im alagai’sharak , Seite an Seite mit meinen Kriegern. Das macht euch zu Evejanern, auch wenn ihr es noch nicht wisst.«
»Ohne mich!«, grollte der Riese. »Wir wollen nichts zu tun haben mit euch dreckigen …!«
»Gared Holzfäller!« Leeshas Stimme hatte einen Klang wie die Peitsche eines dama und brachte ihn abrupt zum Verstummen. »An meinem Tisch will ich keine Unhöflichkeiten hören! Noch eine solche Bemerkung, und ich verpasse dir eine Dosis Pfeffer, dass du einen Monat lang kein Wort mehr rauskriegst!«
Gared zuckte zusammen, und wieder staunte Jardir über die Stärke dieser Frau. Sie ließ die dama’ting geradezu schüchtern aussehen.
Leesha wandte sich ihm zu. »Ich entschuldige mich, Ahmann.« Sie wirkte verdutzt, als er sie strahlend anlächelte. »Was
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